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Der Flurfunk hat Pause

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Die Corona-Krise hat ganze Belegschaften ins Homeoffice versetzt. Was bedeutet es für das Wohlbefinden, wenn Austausch und Klatsch mit Kolleginnen und Kollegen für lange Zeit wegfallen? Der Arbeits- und Gesundheitspsychologe Tim Hagemann weiß, wie wir den Verlust kompensieren.

Herr Prof. Hagemann, Sie sind Arbeits- und Gesundheitspsychologe. In der Corona-Pandemie arbeiten viele Berufstätige aus dem Homeoffice. Der Flurfunk unter den Kollegen und der Klatsch in der Kaffeeküche haben also Pause. Was bedeutet das?

Tim Hagemann: Der Mensch ist ein soziales Wesen und soziale Isolation wirkt im Prinzip wie eine Form von Folter. Der Mensch braucht sein soziales Netz und möchte sich austauschen. Er interessiert sich für andere Menschen und deren berufliche und private Themen. Klatsch und Tratsch genießen im Grunde ein schlechtes Image, doch es zeigt sich dabei auch Anteilnahme und Interesse. Wir ziehen aus den Erfahrungen und Schicksalen anderer etwas für uns persönlich. Das emotionale Spektrum reicht dabei von Mitärgern und Mittrauen bis hin zur Schadenfreude. Klatschen zu können, erleben wir als Zeichen sozialen Eingebundenseins und das Arbeitsleben mit Kollegen und Kunden erfüllt dabei schon zeitlich eine zentrale Funktion: Klatsch wirkt wie sozialer Klebstoff, den wir für unser Wohlbefinden dringend brauchen.

 

Hilft Klatsch auch, uns im Arbeitsleben zurechtzufinden?

Oh ja. Das belegen zahlreiche Studien. Unsere Wahrnehmung von sozialen Situationen erfolgt, indem wir über sie kommunizieren und uns untereinander Feedback geben. Man könnte das Wegfallen von Klatsch und Tratsch mit der Situation vergleichen, wenn ich im Internet einen Vortrag halten muss oder in der Konferenz und im Meeting etwas vorschlage und keine Rückmeldung erhalte. Das verunsichert. Menschen klatschen und tratschen über Eindrücke im Beruf. Wie hat der Kollege etwas beobachtet? Wie hat er eine Situation mit dem Chef oder im Kollegenkreis erlebt? Solche Klatschthemen spenden Sicherheit. Dazu gibt es eine interessante Beobachtung …

Tim Hagemann studierte Psychologie in Trier, Düsseldorf und Stanford. Heute lehrt und forscht er an der FH der Diakonie in Bielefeld, hält Vorträge und ist als Berater tätig. Sein jüngstes Buch trägt den Titel: „Die Kunst der Arbeit – ein Pfad durch den Dschungel beruflicher Herausforderungen“. Unter dem Stichwort „empaclip“ veröffentlicht er auf YouTube regelmäßig Videobeiträge, in denen er wissenschaftliche Tipps und Tricks für die Arbeitswelt teilt.

Erzählen Sie! Was haben Sie herausgefunden?

Wir sehen, dass jüngere Mitarbeitende, die ja eigentlich sehr digital-affin aufgewachsen sind, schlechter mit der derzeitigen Situation der Corona-Pandemie und ihren Einschränkungen zurechtkommen als ältere. Meine Hypothese ist, dass Berufsanfänger sehr viel weniger Sicherheit besitzen und sehr viel stärker auf informelle Gespräche im Beruf angewiesen sind, um sich zu orientieren. Hast Du das auch gehört? Habe ich richtig reagiert? Was ist da los? Habe ich den Chef korrekt interpretiert oder gibt es eine versteckte Agenda? Beim Plausch in der Büroküche geht es weniger um sachliche Themen, sondern stärker um Emotionen: Wir reflektieren über Kollegen und Vorgesetzte und ordnen beim Klatsch die Eindrücke über die Situationen.

Können denn digitale Chatprogramme, die Unternehmen einsetzen, das nicht auch ein Stück weit kompensieren?

Menschen kommunizieren in diesen Medien verhaltener und ich beobachte, dass die digitalen Chats die Funktion von Klatsch und Tratsch nicht ersetzen können. Mitarbeiter sind bei E-Mails und Chat-Programmen eher vorsichtig, weil sich die schriftliche Form nachverfolgen lässt. Sie fürchten, dass da schnell etwas schiefgehen und ans Licht kommen kann. Es fehlt also die Lockerheit, die ein Plausch oder eine kleine Lästerei unter Kollegen in der Kaffeeküche besitzt. Es gibt eine Angst, sich offen auszutauschen.

Was empfehlen Sie?

Eigentlich hilft nur der Griff zum Telefonhörer oder das private Zoom- oder Skype-Gespräch, um den Verlust an Nähe zu kompensieren und sich auszutauschen. Der Psychologe Robin Dunbar hat Klatsch mit der Fellpflege der Affen verglichen. Wir müssen jetzt für ausreichend digitale Fellpflege sorgen. Zwar genießt Klatsch einen miserablen Ruf und kann auch in Richtung Mobbing ausarten. Doch der Mensch besitzt dieses Interesse, sich über seine Umwelt zu verständigen. Deswegen sollten wir uns auch ohne konkreten Anlass verabreden und unseren Kollegen anrufen, um zu fragen, wie es ihm geht. Wir würden das auch tun, wenn wir zufällig auf dem Flur zusammentreffen oder gemeinsam zum Mittagessen gehen. Solche Termine sollten wir pflegen und eine Kultur für informellen Austausch finden. Wir können uns auch zum digitalen Lunch verabreden.

Trotzdem verlieren wir bei virtuellen Begegnungen auch Eindrücke, vor allem das Sinnliche und Haptische?

Das ist richtig. Der Videokonferenztechnik fehlt das Dreidimensionale einer realen Begegnung. Befinden wir uns mit anderen in einem Konferenzraum, erhalten wir sinnliche Informationen: Da ist der Geruch, der Lichteinfall, die Akustik – wir spüren unsere Umwelt mit allen Sinnen. Menschen sehnen sich danach. Doch ich denke, dass die distanzierte Telearbeit ohne diese Situationseindrücke auch Vorteile bietet. Meetings werden kürzer und Teilnehmer kommunizieren konzentrierter und sachlicher. Emotionalität verkompliziert viele Sachverhalte. Ein Vorteil der digitalen Kommunikation besteht nun auch darin, dass sich private Einblicke ergeben. Im Homeoffice verflachen Hierarchien, weil vor dem Bildschirm alle gleich sind. Das große Büro der Führungskraft verliert seine Wirkung. Man sieht die Katze, die durch das Bild streift. Es finden sich einfacher Termine mit vielreisenden Kollegen. Nur Kreativität entfällt durch die effektivere Kommunikation und den Verlust der direkten Begegnung eher. Dies müssten wir mit neuen Formaten einholen und gezielt zu kreativen Funken anregen.

Klatsch und Flurfunk haben also einen Bezug zur Kreativität?

Natürlich! Im Abschweifen können gedankliche Funken entspringen. In der Kaffeeküche wird nicht selten eine Idee geboren oder eine tolle Lösung gefunden.

Haben Sie denn eine Prognose, ab wann wir mit Auswirkungen auf die Gesundheit rechnen müssen, wenn sich die virtuelle Zusammenarbeit noch weiter dehnt?

Ich habe Sorge, weil uns die soziale Unterstützung durch Plaudern fehlt. Wenn ich ein schwieriges Telefonat mit einem Kunden hatte und ich lege auf und kann sofort bei meinem Kollegen am Schreibtisch Dampf ablassen, hilft das. Viele Studien belegen, dass Stresshormone durch soziale Unterstützung sinken. Sind wir gestresst, drosseln sich Routineprozesse im Körper und wir stellen auf Kampf- oder Fluchtmechanismus um. Unser Gehirn wird stärker durchblutet, die Verdauung zurückgefahren und das Immunsystem arbeitet langsamer, weil unsere Energie sich auf die Bedrohung richtet. Wenn ich allein über den schwierigen Kunden grübele und den Stress nicht mit dem Kollegen abfedern kann, stoße ich hohe Mengen des Stresshormons Cortisol aus. Ein bis zwei Tage ist das kein Problem, aber für denjenigen, der über Wochen Stresshormone ausschüttet, sehe ich Gefahren.

Welches sind konkrete Gesundheitsrisiken?

Was wir an Nähe und Gemeinschaftsgefühl durch fehlenden Klatsch verlieren, kann Ängste vergrößern und bis zu depressiven Verstimmungen führen. Durch die gedankliche Enge, wenn ein Berufstätiger immer wieder um die gleichen Sorgen kreist, Fachleute nennen das Rumination, steigt das Risiko von depressiven Verstimmungen. Gerade die Gespräche mit Kollegen könnten das abpuffern und ein gedanklicher Anstoß von außen kann aus der Verunsicherung führen. Auch hier ist die Gefahr für jüngere Mitarbeiter erhöht, denen ein älterer Betriebsangehöriger mit Erfahrung nach einer schlechtgelaufenen Sitzung sagen könnte, „ach, das kenne ich schon“. Bleibt das Stresslevel hoch, kann die Immunabwehr gegenüber Viren und Bakterien geschwächt sein und das Infektrisiko steigen. Ich denke, ab einem halben Jahr können Einschränkungen im kollegialen Austausch zu Beeinträchtigungen führen. Dabei müssen wir die Gesamtsituation betrachten: Für jemanden, der sozial und familiär gut eingebunden ist, ist das leichter auszugleichen als für denjenigen, der für den neuen Job die Stadt gewechselt hat und einsam ist. Hier sollten wir aufeinander achten und genügend Fellpflege betreiben, um gesund in der Corona-Krise zu bleiben.