Distanz schützt uns, haben wir in der Pandemie gelernt. Aber was macht das mit unserer Psyche und wie wappnen wir uns vor Einsamkeit im Corona-Winter?
Viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden psychisch unter den Folgen von Kontaktbeschränkungen und Schließungen von Freizeitangeboten, Theatern und Restaurants. Der Teil-Lockdown bestimmt unseren Alltag. Hinzu kommt das graue Novemberwetter, das auf die Stimmung drückt und die Ungewissheit, wie wir Adventszeit, Weihnachtsfest und Jahreswechsel erleben werden. Wie wir die kommenden Wochen des Corona-Winters überstehen und dabei psychisch gesund bleiben können, darüber haben wir mit der Bremer Psychologin und Psychotherapeutin Angelika Rohwetter gesprochen.
Angelika Rohwetter,
geboren 1952, arbeitet als Psychotherapeutin mit eigener Praxis seit 1993 in Bremen und hat eine Fortbildung in Traumatherapie und zur Psychotherapie mit alten Menschen. Sie ist Autorin vieler psychologischer Ratgeber. Zuletzt erschien: „Nur Mut! Vom Umgang mit Ängsten.“
Frau Rohwetter, wir müssen seit Monaten Abstand halten, um uns zu schützen. Was macht das eigentlich mit uns?
Am Anfang der Pandemie in diesem Frühjahr herrschte Aufbruchstimmung: Wir schaffen das! Wir suchten kreative Formen von Begegnung, um die verlorene Nähe im virtuellen Raum zu ersetzen. Diese Euphorie lässt deutlich nach. Mir fällt auf: Wir gehen praktisch von selbst auf Abstand.
Wie kommt das?
Nach den vielen Monaten gibt es den Impuls, von selbst einen Schritt zurückzutreten, wenn wir beisammenstehen. Das zeigt mir: Wir bekommen Nähe und Distanz nicht mehr natürlich geregelt. Zusätzlich ist das Maskentragen für das Distanzgefühl entscheidend. Es ist schwer, einen angenehmen Kontakt herzustellen, wenn die Mimik wegfällt. Im sozialen Leben macht das viel mehr aus, als ich zu Beginn der Pandemie als Psychologin dachte. Die Kommunikation wird pragmatisch: Ich bleibe nicht bei der Frau in der Gemüseabteilung oder Käsetheke im Supermarkt stehen. Die winzig kleinen Smalltalks am Kiosk finden kaum statt, der andere versteht mich unter der Maske womöglich nicht. Witz und Charme und Lebendigkeit fallen weg. Das geht bis in unsere Mimik, die kontrolliert und distanziert ist. Damit fällt, wenn Sie so wollen, das Öl im Getriebe des Alltags weg und Misstrauen steigt.
Welche psychologischen Probleme können aus dieser sozialen Distanz folgen?
Das geht bis zu depressiven Verstimmungen. Menschen können auch mit Selbstentwertungen reagieren: Warum bin ich noch immer allein? Personen mit leidvoller Vergangenheit nehmen oft eine Opferhaltung ein und werden bestätigt. Sie empfinden es so, als wäre die Krise gegen sie gerichtet: Warum immer ich? All diese Krisen werden verstärkt.
Ende Oktober kam schließlich die Nachricht vom erneuten Teil-Lockdown, viele nennen das auch "Lockdown light". Wie haben die Menschen diese Nachricht aufgenommen?
Ich habe wahrgenommen, dass die Nachricht die Gesamtsituation verschlimmert hat: Ich beobachte Resignation, depressive Züge bis hin zu Verzweiflung. Das „Teil“ oder „light“ kommt bei den Menschen nämlich kaum an. Eine Patientin berichtete mir, dass sie plante, an die Ostsee zu fahren. Solche Kurzurlaube zur Erholung im Alltag aufzugeben, ist schmerzhaft. Auf alles, was bereits wieder möglich war, muss erneut verzichtet werden: Das wirkt viel stärker auf die Psyche der Menschen als der erste Lockdown im Frühjahr. Sie sind frustriert, müde und zunehmend gereizt.
Der zweite Lockdown ist also nicht einfacher für uns, weil wir bereits einen erlebt haben?
Leider nein. Ich vergleiche das mit einer Traumatisierung, die sich wiederholt. Werde ich einmal überfallen, empfinde ich das als schrecklich. Ich weiß aber auch, dass es jedem passieren kann. Beruhige ich mich nach einiger Zeit und werde anschließend erneut überfallen, so erlebe ich das zweite Mal als schlimmer, denn es kommt alles wieder hoch. So ist das auch jetzt: Es können viel schneller psychische Beeinträchtigungen entstehen und das Leiden kann sich chronifizieren, das gilt für die Traumatisierung wie den zweiten Lockdown.
Rechnen Sie mit zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen auch für gesunde Menschen?
Auch bei den sogenannten Gesunden, also uns Normal-Neurotikern, wie ich das gern nenne, tritt eine Übermüdung als Folge der langen Belastung ein: Wir werden anfälliger – sowohl für körperliche als auch für psychische Belastungen. Es steigt zum Beispiel die Aggressionsschwelle: Wenn die Nachbarin jetzt im Treppenhaus komisch guckt, wird das plötzlich als persönliche Kränkung erlebt und lässt den Wutpegel innerlich ansteigen. Wir erleben die Situation wie durch ein Brennglas – viel schärfer als in stabilen Zeiten. Kurzgesagt sind auch psychisch gesunde Menschen dünnhäutiger und fahren schneller aus der Haut. Wir sollten verständnisvoll miteinander umgehen, viele sind momentan gereizt.
Was kann denn konkret für die Psyche durch die neuerlichen Einschränkungen folgen?
Eine bestehende Depression kann sich verstärken. Vor allem aber beobachte ich Auswirkungen in Richtung Aggression: Eine meiner Patientinnen ist voller Wut auf all jene Menschen, die keine Maske tragen. Sie personifiziert auf diese Weise ihre Ängste vor dem Virus. Das ist normal und geradezu typisch: Wir suchen Schuldige. Menschen brauchen Bilder und Ziele, auf die sie ihre Emotionen wie auf eine Dartscheibe projizieren können. An der Querdenker-Bewegung sehen wir, dass dies gesellschaftlich gefährlich ist: Ich glaube, dass die Gefühle von Kontrollverlust von den Anhängern dieser Bewegung nicht ausgehalten werden und auf äußere „Täter“ projiziert werden.
Sie sprechen den Kontrollverlust in der Pandemie an. Können wir den zweiten Lockdown nicht auch gestalten?
Ich kann mich erinnern, dass wir diese Situation bereits einmal überstanden haben und kann meine persönlichen Erfahrungen aus dem Frühjahr reflektieren und auswerten: Was hat mir gutgetan und worauf will ich erneut achtgeben, wie beispielsweise eine feste Tagesstruktur? Was mache ich dieses Mal besser anders – vielleicht im Bereich Ernährung und Bewegung? Meine Erkenntnisse kann ich mir als Vorsätze notieren. Selbst in einer Zeit der Kontaktbeschränkungen kann ich übrigens neue Leute kennenlernen. Ich habe viele neue, hauptsächlich virtuelle Bekanntschaften gemacht und meine Freunde in der Pandemie neu und intensiver kennengelernt. Auch zu Autoren, die ich entdeckte, habe ich recherchiert und ihre Biografien gelesen. Alles, was man sonst lässt, weil man keine Zeit hat, kann man tun. Es ist wichtig, sein Gehirn mit etwas Sinnvollem und Lustvollem im Lockdown zu beschäftigen. Zu lernen, kann durchaus lustvoll sein.
Und dennoch liegen unabhängig vom Lockdown mindestens drei Monate Corona-Winter vor uns. Wie kann ich auf dieser Strecke für Lebensfreude und Zuversicht sorgen?
Der zentrale Punkt ist, nicht zu bekämpfen, sondern zu akzeptieren. Sonst resignieren wir und verlieren Kraft. Das ist jetzt unsere Realität, die gestaltet werden will. Wir brauchen dafür eine neue Euphorie. Dabei hilft das Bild: Wir richten uns in einem neuen Haus ein. Dazu können wir tolle Fantasien entwickeln, was wir alles gestalten wollen. Wir können Lieblingskräutertees herausfinden, viele Kerzen anzünden, anfangen, Briefe zu schreiben, oder alte Platten auflegen. Das sind alles Tipps, die wir auch Traumapatienten geben und die für Wohlbefinden sorgen. Auch eine schöne Idee für den Corona-Winter wäre es, sich beim Sport Mikro-Abenteuer zu gönnen: Ich kann Kurse im Internet suchen, zu denen ich mich normal nicht trauen würde. Wir haben zwar viel Kontrolle verloren, aber wir können noch gestalten. Daran entzündet sich Zuversicht. Zu gestalten, stärkt uns.
Die erneuten Beschränkungen rühren zusätzlich an die Adventszeit. Weihnachtsmärkte mit Lichtern, duftenden Mandeln und Punsch fallen aus und auch das Adventsshopping wird für viele vermutlich online statt in der märchenhaft geschmückten Innenstadt erfolgen: Sollte ich auf Adventsstimmung in diesem Jahr verzichten?
Wir können uns diese Stimmung und die damit verbundene Vorfreude sehr wohl selbst schenken und ins Haus holen, wenn wir sie denn mögen – mit Glitzersternen, Kerzen, Tannengrün und Zeremonien. Mein Rat: Wenn es der Seele guttut, dann machen Sie so viel Adventsstimmung in der eigenen Wohnung, wie Sie mögen, und laden Sie dazu auch mal eine Freundin ein! Das ist auch per Videoanruf möglich. Wenn es aber nur Wehmut und Trauer in Ihnen bewirkt und Sie kein Freund von Weihnachten sind, dann lenken Sie sich lieber mit etwas anderem ab, das Ihnen Freude macht. Wie wäre es, die Weihnachtsgeschichte jetzt einmal genauer zu beleuchten und vielleicht mehr auf ihren Sinn zu achten?
Denn eigentlich ist es eine Zeit der Rituale, die der Psyche guttun…
Vor allem Dankbarkeit wirkt nachweislich sehr positiv auf die Psyche und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ich arbeite immer wieder mit Patienten daran, Dankbarkeit spüren zu können. Es konnte in Studien nachgewiesen werden, dass Dankbarkeit ein förderliches Gefühl für die Psyche und den Körper, ja sogar das Immunsystem ist – nicht nur Liebe und Hoffnung, sondern besonders die Dankbarkeit stärkt und schützt uns! Ich rate dazu, ein Dankbarkeitstagebuch anzulegen und gezielt nach Dingen Ausschau zu halten, die dieses Gefühl in einem wecken, und diese täglich aufzuschreiben. Das dürfen Miniaturen sein, für die ich dankbar bin. Solche Rituale können Wärme in die Adventszeit zurückbringen und jeder, der ein derartiges Tagebuch führt, wird erstaunt feststellen, dass wir Gefühle selbst erzeugen können: Ich fühle mich besser!
Was kann ich tun, wenn ich mich dennoch traurig, einsam und niedergeschlagen fühle?
Das gesunde soziale Miteinander sollten wir durch Technik in diesem Winter genauso pflegen: SMS schreiben, skypen, telefonieren. Und wir sollten nicht die Zweierkontakte unterschätzen. Ich kann meine Freundinnen abwechselnd anrufen oder lieben Menschen ein Kärtchen schreiben. Ich kann mit der Kollegin, die ich bislang nicht so gut fand, Kontakt aufbauen. Ein Zaubermittel für Lebensfreude ist übrigens Wunscherfüllung: Sich mal zu fragen, was wollte ich schon immer? Was muss ich dafür tun? Ich habe in diesem Jahr alles genossen, was die Jahreszeiten hergaben, für Desserts, Kompott und Chutneys. Außerdem habe ich begonnen, Kuchen zu backen. Nachdem die ersten Zwetschenkuchen etwas trocken geworden waren, klappte es mit dem Apfelkuchen ganz gut. Heute backe ich einen Rührkuchen mit vielen Rosinen.