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„Die Sucht-Stimme wurde immer lauter. Trink, trink, trink …”

Geschichte einer Sucht
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Michaela Jensen ist trockene Alkoholikerin. Mit 33 Jahren wachte sie aus der Sucht auf und änderte ihr Leben. Heute spricht sie über ihre jahrelange Alkoholabhängigkeit – in Schulklassen, Unternehmen, Vereinen, Verbänden, Städten und Kommunen. Sie klärt auf. Für „fit!“ schaut sie auf ihr altes Leben, das von der Sucht dominiert wurde. Hier ist ihre Geschichte.

Jugend:

Ich war 16, als ich das erste Mal trank. Der Rausch glich einer Offenbarung. Ich konnte endlich die Person sein, die ich sein wollte. Normalerweise war ich still und schüchtern. Mit Alkohol selbstbewusst und lustig. Ich litt unter meiner Scheu. Doch ich vertraute meine Probleme niemandem an. Ich legte das Abitur ab, hatte einen guten Schnitt und schrieb mich an einer Uni ein. Das Schüchterne würde sich sicherlich verwachsen, dachte ich. Vielleicht müsste ich nur älter werden und der Mut käme wie von selbst.

 

Studium:

Ich wurde älter. Das Schüchterne blieb. Ich erinnere mich an kaum einen Tag meines Studiums, an dem ich auf den Alkohol verzichtet hätte. Ich frönte dem Rausch. Auf Partys, in der Disco, in Fußballstadien, in Kneipen, in denen ich bis zum Morgengrauen versackte. Ich hatte einen einfachen Lösungsschlüssel gefunden, um mein Leben halbwegs angenehm zu gestalten. Die Nacht war Sensation. Der Minderwert, der mich bei Tag bedrückte, eine Qual. Das Mittel erträglich.

 

Arbeit:

Mit 24 schloss ich mein Studium ab und zog für meinen ersten Job nach Köln. Hätte ich ehrlich geschaut, ich hätte bemerkt, dass der Alkohol mein Leben mehr bestimmte als ich es zugeben wollte. Je anspruchsvoller die Aufgaben wurden, umso dringlicher schielte ich auf den abendlichen Ausgleich. Meinen Konsum hatte ich auf zwei bis drei Flaschen hochgeschraubt und meine Verabredungen plante ich längst nicht mehr frei. Ein Tee-Abend? Für mich ein Tabu. Ich wählte die Geselligkeit danach aus, dass mir der Alkohol sicher war. In meinem Kalender hielt ich fest, wann ich zuletzt mit wem unterwegs gewesen war. Niemals feierte ich in Folge mit der gleichen Person. Auf diese Weise fiel mein Konsum weniger auf.

Soziale Isolation:

Mit fortschreitender Gewöhnung zog ich mich zunehmend zurück. Geplante Treffen sagte ich in letzter Sekunde ab. Das eine Mal schob ich eine Nachbarin vor, die spontan geklingelt hätte. Das andere Mal hatte ich ein Telefonat vergessen, das angeblich auf 20 Uhr terminiert war. Das nächste Mal nutzte ich die Ausrede, mir ginge es nicht so gut. Sie kam der Wahrheit am nächsten. Ich ließ nur den entscheidenden Nachsatz aus. Fernseher an, Flasche auf, trinken bis zum Umfallen, schlafen. Selten war ich vor fünf Uhr früh im Bett. Um acht Uhr klingelte der Wecker.

 

Kontrollverlust:

Die Sucht-Stimme wurde immer lauter. Trink, trink, trink, hämmerte es in meinem Kopf. Der Konzentrationsfaden riss. Auf meinem Schreibtisch klebten immer mehr Erinnerungszettel. In meiner Schublade verwahrte ich zudem Karteikarten, auf denen ich meine Tagesabläufe notierte. Nach Feierabend führte der Weg in den Supermarkt. Ich hortete Nachschub.

Eines Morgens erwachte ich und zitterte. Um das Beben zu bekämpfen, füllte ich Orangensaft mit Prosecco in eine Plastikflasche ab und verstaute den Mix in meiner Handtasche. Im Büro verschwand ich stündlich auf der Toilette. Anschließend lutschte ich Bonbons und hielt den Atem an, sobald eine Person neben mir stand; aus Angst, jemand könne den entlarvenden Geruch bemerken, der mir aus jeder Pore quoll. In diesem Zustand arbeitete ich weitere vier Jahre.

Ansprache:

Ich war 33 Jahre, als mich mein Vorgesetzter mit meinem Problem konfrontierte. Zunächst leugnete ich, gestand aber vier Tage später ein, dass ich Alkoholikerin sei. Es war mir peinlich, dass ich trank. Aber stärker war die Erleichterung auszusprechen, wie sehr ich das Trinken hasste, dass ich kaum hinterher kam und immer mehr hinter dem Bemühen verschwand, den Alkohol und mich zu verstecken. Vier Tage später lieferte ich mich ins Krankenhaus ein und entgiftete zum ersten Mal.

 

Aufstieg:

Nach mehreren Rückfällen entschied ich mich mit 35 Jahren für eine Entwöhnungsbehandlung. Vier Monate war ich in Rehabilitation. In den folgenden Jahren besuchte ich eine Nachsorgegruppe und genoss zusätzlich Einzeltherapie. Dank dieser Unterstützung habe ich mich und meine Erkrankung verstehen gelernt, und seit ich meine Gründe kenne und bearbeitet habe, schäme ich mich nicht mehr für sie. Ich wünschte nur, ich hätte mich früher geöffnet, mit 16 und nicht erst mit Mitte 30. Deshalb rede ich heute über meine Krankheit. Psychischer Not hilft keine Scham. Sondern ein freier Umgang.

Michaela Jensen

Bei Alkoholproblemen: Online-Programm „Vorvida“

Versicherte der DAK-Gesundheit können das neue kostenlose Online-Coaching nutzen, um ihren Alkoholkonsum zu reduzieren. Fast zehn Millionen Menschen in Deutschland trinken zu viel Alkohol, 74.000 Todesfälle stehen jährlich im Zusammenhang mit der Alkoholsucht. Dennoch begeben sich nur gut zehn Prozent der Gefährdeten in Therapie. Die DAK-Gesundheit schließt mit dem Angebot „Vorvida“ eine Versorgungslücke. Das völlig neuartige Selbsthilfeprogramm reduziert riskantes Trinkverhalten nach einer aktuellen Studie um bis zu 75 Prozent. Mit ihrer Versichertennummer und E-Mail-Adresse können sich DAK-Versicherte ab sofort kostenlos registrieren unter www.vorvida.de/dak