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Familie & Freizeit

Familien am Limit

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In unserer Studie „Homeschooling in Corona-Zeiten“ schauten wir in deutsche Wohnzimmer. Die Ergebnisse übertrafen unsere Vorahnungen.

In der Zeit des Lockdowns waren Familien besonders belastet. Die Kombination aus Homeschooling und Homeoffice brachte sie an ihre Grenzen. Ein Großteil von ihnen erlebte den Lockdown als eine starke Belastung – sowohl für die Eltern als auch für die Kinder und Jugendlichen. Das ist das Ergebnis unserer Studie „Homeschooling in Corona-Zeiten“.

Was können wir aus dieser Zeit lernen? Und wie können digitale Angebote helfen, die Situation der Familien zu verbessern? Darüber haben wir mit dem Präsidenten des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Dr. Thomas Fischbach gesprochen.

Dr. Thomas Fischbach, Präsident vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte 

Ein Gespräch mit Präsident Dr. Thomas Fischbach vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte

 

Wie erlebten Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen diese für Familien besondere Zeit? Was für Eindrücke hatten Sie von Kindern und ihren Eltern in Ihren Praxen?

Wir erlebten gestresste, teilweise auch hilflos wirkende Eltern – insbesondere, wenn sie kleinere, behinderte oder verhaltensauffällige Kinder haben. Eine besonders stark belastete Gruppe waren Alleinerziehende. Wir wissen aus einigen Untersuchungen, dass familiäre Streitsituationen deutlich zugenommen haben. Das verwundert nicht und zeigte sich auch in der häufigen Frequentierung der Kinderschutzhotline.

 

Homeoffice und Homeschooling: Wenn beide Modelle parallel laufen, kommt es vermehrt zu Konflikten in den Familien. Welche Gefahren sehen Sie für die kindliche Entwicklung?

Zunächst vorweg: Wenn Homeschooling die neue Schulform sein soll und Eltern als Hilfslehrer fungieren, dann stellt man ja den Lehrerberuf infrage. Aber Lehrerinnen und Lehrer sind nicht einfach nur Pauker, die den Kopf ihrer Schülerinnen und Schüler mit Wissen füllen sollen. Ganz im Gegenteil: Sie erfüllen – und daher heißen sie ja auch Pädagogen – wichtige erzieherische Aufgaben in Ergänzung zu den Eltern. Besonders bei Kindern und Jugendlichen mit psychosozialen Belastungen, die aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen kommen, ist diese Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer sehr wichtig. All das fällt in Zeiten des Homeschoolings weg und belastet daher auch die kindliche Entwicklung. Natürlich ist im Dualismus Homeschooling und Homeoffice der Konflikt vorprogrammiert – insbesondere, wenn Sie kleinere Kinder im Haushalt haben.

 

Welche Folgen kann dies konkret haben?

Kinder befinden sich im Entwicklungsprozess. Die Sozialentwicklung und auch die emotionale Entwicklung sind nicht einfach vom Himmel gefallen. Hier müssen Fähigkeiten erworben werden. Das funktioniert nur im Kontext mit gleichaltrigen Kindern. Wenn man Kindern über einen längeren Zeitraum die Möglichkeit des aneinander Lernens und Ausprobierens nimmt, dann leiden sie an einer Verarmung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten mit allen negativen Folgen, die ich auch in der Praxis sehe.

„Digitale Angebote können hilfreich sein.“

Was können Eltern konkret tun, um die Situation zu Hause zu entspannen, wenn es in Zukunft wieder zu ähnlichen Situationen kommt?

Wichtig ist, dass die Kinder zu Hause nicht eingesperrt werden. Das ist auch nicht nötig. Es ist in den verschiedenen Lockdown-Phasen ja auch immer möglich gewesen, nach draußen zu gehen. Die Spielplätze sind wieder geöffnet. Das Zusammentreffen mit Freunden kann auch wieder stattfinden – natürlich unter der Einhaltung der regionalen Bestimmungen. Auch hier gilt: Kinder brauchen Kinder, um sich psycho-sozial entwickeln zu können. Das funktioniert eigentlich nur im Präsenzunterricht und nicht im Homeschooling. Viele Eltern berichteten mir, dass sie in Zeiten von Corona öfter mit ihren Kindern Gesellschaftsspiele spielten und sich mehr mit ihren Kindern befassten. Aber natürlich war dies auch nur bedingt möglich, wenn Eltern eine Doppelbelastung mit Homeoffice und Homeschooling hatten und ein Betreuungsproblem entstand. Das ging auf die Nerven und an die Nieren. Wenn dann noch finanzielle Nöte aufgrund von Kurzarbeit oder eines Jobverlusts hinzukamen, dann entstand ein Familienklima mit einer hohen Brisanz.

 

Wie verhalte ich mich als Nachbarin oder Freund, wenn ich den Eindruck habe, dass es einem Kind nicht gut geht?

Ich rate dazu, offensiv und empathisch mit solchen Situationen umzugehen. Wenn man ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn hat, dann kann man sie einmal ansprechen und vor allem auch Unterstützung anbieten. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass die Nachbarskinder einmal miteinander spielen? Das Formulieren von Vorwürfen sollte man unbedingt vermeiden. In den wenigen Fällen, die wirklich ernsterer Natur sind, kann der Hinweis auf die Kinderschutzhotline sinnvoll sein oder im ärgsten Fall auch die Kontaktierung des Jugendamtes. Aber in dieser Reihenfolge. Viele Probleme können im gemeinsamen Gespräch gelöst werden. Man muss eben ein Herz für die anderen haben, die im gleichen Haus wohnen.

 

Digitale Angebote sind flexibel und auch im Gesundheitsbereich niedrigschwellig einsetzbar. Sie können Familien kurzfristig und punktgenau helfen. Welche Erfahrungen haben Sie hier gemacht?

Es gibt ja eine Vielzahl digitaler Angebote rund um die Themen Kindererziehung, Entwicklung und die damit verbundenen Probleme. Zahlreiche medizinische, pädagogische und psychotherapeutische Verbände, die Wohlfahrtsverbände, öffentliche Institutionen und natürlich auch die Krankenkassen, wie die DAK-Gesundheit, bieten digitale Formate an. Solche Angebote können hilfreich sein. Sie setzen aber auch immer eine gewisse Bildungsnähe voraus und die sprachliche Möglichkeit, ein solches Angebot in Anspruch zu nehmen. Sie ersetzen aber nicht in schwerwiegenden Fällen das persönliche Gespräch mit Fachleuten, wie beispielsweise den Kinder- und Jugendärzten.

Die Kinderschutzhotline …

… erreichen Sie unter: 0800 19 210 00  kinderschutzhotline.de