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Fit für den Kindernotfall

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Schon der Gedanke an einen medizinischen Notfall beim Kind macht Eltern Angst. Dr. med. Katharina Rieth möchte dem mit gut aufbereitetem Wissen entgegenwirken, damit im Fall der Fälle richtig reagiert wird. Wir haben die Kinderfach- und Notärztin zum Interview getroffen.

Ein Sturz vom Klettergerüst, ein Fieberkrampf, Luftnot: Wer Kinder hat, sie betreut oder unterrichtet, muss immer damit rechnen, irgendwann mit einer Situation konfrontiert zu sein, die ein medizinischer Notfall ist. Oder sein könnte. Zwar tritt der Ernstfall glücklicherweise selten ein: „Nur bei etwa 6,4 Prozent aller Notfälle sind Kinder die Betroffenen“, weiß Dr. med. Katharina Rieth. Doch gerade deshalb ist es der Kinderfachärztin, Intensivmedizinerin und Notärztin ein besonderes Anliegen, für mehr Sicherheit im Umgang mit kritischen Situationen zu sorgen. Sie hat dazu einen umfassenden Ratgeber verfasst, „Fit für den Kindernotfall – von Fieber bis Reanimation“ (2022 erschienen im medhochzwei Verlag). Uns erläutert sie im Interview, worum es ihr geht.

Dr. med. Katharina Rieth
Kinderfachärztin, Intensivmedizinerin und Notärztin

Von Austrocknung über Luftnot bis hin zur Vergiftung: Nach einem Blick auf das Register Ihres Buches könnte es einem vor dem Leben mit Kindern angst und bange werden. Dabei sind Kindernotfälle, wie Sie sagen, doch selten …
Genau da liegt das Problem: Anstatt fehlende Routine durch Üben und gezielten Wissenszuwachs auszugleichen, flüchten sich viele in die scheinbare Sicherheit des „Wird schon nichts passieren – und wenn, dann nicht mir“-Gefühls. Dies führt dazu, dass Kindernotfälle oft zu spät erkannt werden. Wenn im Ernstfall zu zögerlich gehandelt wird, kann das fatale Folgen haben. Es geht also keineswegs darum, Angst zu verbreiten, sondern darum, Eltern und alle, die mit Kindern zu tun haben, für das Thema der Kindernotfallmedizin zu sensibilisieren. Und wichtiger noch, sie mit den entsprechenden Fähigkeiten auszustatten, damit im Notfall ein rasches Erkennen, Handeln und somit Leben Retten möglich wird. Bestenfalls werden außerdem frühzeitig vorbeugende Maßnahmen ergriffen, damit es gar nicht erst zu so einer Situation kommt.

Was empfehlen Sie allen, die mit Kindern umgehen, vom Opa über die Kindergärtnerin bis zum Babysitter, um sich für Notfälle fit zu machen? Sollte man sein Know-how immer wieder auffrischen und regelrecht trainieren?
Ich kann nur jedem ans Herz legen, sich eingehend damit zu beschäftigen. Im Notfall erst irgendwo nachzulesen oder ein Video zu schauen macht überhaupt keinen Sinn. Wichtig sind auch regelmäßige Wiederholungen. In Vor-Ort-Kursen sind oft nicht mehr als zwei oder drei Runden „Drücken“ und „Pusten“ oder das Üben verschiedener Manöver zur Entfernung von Fremdkörpern aus den Atemwegen an der Puppe drin, dann ist der Tag schon wieder gelaufen. Das ist aber nicht genug! Wichtige Informationen, um brenzlige Situationen zu verhindern und spezielle Notfälle zu erkennen, sind in solchen Kursen sowohl zeitlich als auch häufig fachlich gar nicht möglich.

Was sind die häufigsten Kindernotfälle? Und was könnte man dabei besonders leicht falsch machen?
In acht von zehn Fällen geht es um Atemwegsproblematiken, Krampfanfälle und unfallbedingte Verletzungen. Häufig wird zu lange abgewartet, sei es aus Angst, etwas falsch zu machen, oder aus der falschen Erwartung heraus, dass „der Rettungsdienst ja gleich kommt“. Nach Absetzen eines Notrufs kann es zehn Minuten oder länger dauern, bis professionelle Hilfe eintrifft. In dieser Zeit müssen im Ernstfall dringend lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden.

„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, diesen Satz hat wohl jeder schon mal gehört. Doch welche Besonderheiten der Jüngsten sind es konkret, die bei Notfällen beachtet werden müssen?
Kinder unterscheiden sich sowohl anatomisch, physiologisch als auch emotional stark vom Erwachsenen. Sie haben zum Beispiel einen höheren Sauerstoffverbrauch bei gleichzeitig geringeren Sauerstoffreserven. Bei einem Atemstillstand zählt deshalb jede Sekunde und es sollte noch vor der Herzdruckmassage fünfmal beatmet werden. Außerdem versagt der Kreislauf von Kindern viel rascher bei Blutverlust durch Verletzungen oder Flüssigkeitsverlust durch Erbrechen, Durchfall oder Schwitzen. Und sie haben ein viel elastischeres Skelettsystem. Bei Unfällen mit hoher Krafteinwirkung auf den Körper wird diese deshalb auf innere Organe übertragen. So kann es zu gefährlichen Organrissen mit Blutungen kommen, ohne dass man äußerlich viel sieht.

Wie bekommt man als Laie die Panik in den Griff, wenn ein Notfall vorliegt?
Ruhe zu bewahren ist das A und O, ganz unabhängig vom Ausbildungsstand. Angst lähmt und Respekt beflügelt! Im Notfall also ruhig durchatmen, Situation überblicken, eigene Sicherheit nicht vergessen, die sogenannten Vitalparameter Bewusstsein, Atmung und Kreislauf kontrollieren und sichern, Hilfe- beziehungsweise Notruf nicht vergessen und immer erst dann lebensrettende Maßnahmen beenden, wenn man durch professionelle Helfer oder Helferinnen abgelöst wird.

Was ist bei Kindern als Patientinnen und Patienten noch anders als bei den Großen und welche Strategien haben sich da bewährt?
Kinder verstehen häufig nicht, warum spezielle Maßnahmen durchgeführt werden müssen, haben Angst, sind verunsichert und würden am liebsten weglaufen. Deshalb ist es umso wichtiger, sein Kind auf Arztbesuche vorzubereiten, selbst Ruhe zu bewahren, um diese auch ausstrahlen zu können, es zu unterstützen, statt ihm Angst zu machen oder zu drohen, Vertrauen zu schaffen. Und es auch mal zu loben, wenn das Blutabnehmen oder das Schlucken der ungeliebten Tablette besonders gut gelaufen ist.

Was sind Faustregeln, um Notfälle möglichst schon im Vorfeld zu vermeiden?
Um Unfallgefahren im Haushalt und im Garten zu erkennen, lohnt es sich, sich mal auf den Entwicklungsstand seines Kindes einzulassen und aus dessen Augen das Zuhause zu inspizieren. Um Krankheitsbilder rascher erkennen zu können, muss man vorher mal etwas davon gehört haben, und um den Gesundheitszustand seines Kindes einschätzen zu können, muss man mit bestimmten Tools vertraut sein.

Wir erleben Sie Eltern heute: Gibt es eher die Überbesorgten, die schon mit einem aufgeschlagenen Knie in die Notaufnahme eilen, oder die Unbekümmerten? Gehen wir mit der Thematik weniger souverän um als frühere Generationen?
Im Laufe der letzten zehn Jahre zeigt sich in der Kinderheilkunde tatsächlich eine Tendenz hin zu überbesorgten Eltern, die aufgrund verlorengegangener Gesundheitskompetenz und auch fehlender Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung mit Wehwehchen die Notaufnahmen und Praxen überschwemmen und dabei trotz allem den Anspruch haben, möglichst umgehend behandelt zu werden. Aufgrund der Informationsflut im Internet könnte man eigentlich meinen, Eltern seien informierter und aufgeklärter als früher. Doch das Gegenteil ist der Fall. Im Netz sind leider viele schwarze Schafe unterwegs, die munter gefährliches Halbwissen posten. So kommt es häufig dazu, dass wir Kinder behandeln müssen, deren Eltern gutgemeinte Ratschläge von Laien aus Elternforen angenommen und damit ihrem Kind mehr geschadet als geholfen haben.

Wie könnte der goldene Mittelweg zwischen Überbehüten und fahrlässiger Sorglosigkeit aussehen?
Eine gute Gesundheitskompetenz ist dabei der Schlüssel. Dazu müssen Informationen von fachlich kompetenter Seite kompakt, professionell und pädagogisch hochwertig aufbereitet übermittelt werden. Aufklärung führt dazu, dass wieder Verantwortung übernommen wird und nicht eine Problemverschiebung erfolgt. So können die Eltern selbst viele Notfälle durch Prävention verhindern oder durch rechtzeitiges Erkennen einer sinnvollen Therapie zuführen. Kleinere Wehwehchen könnten wieder mittels einer gut ausgestatteten Hausapotheke bekämpft werden. Damit wäre allen Seiten geholfen!

Interview: Annemarie Lüning