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„Ich möchte eine Reiseleiterin für Autismus sein“

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Autistinnen und Autisten eine Stimme geben – das ist für Carola Niekisch eine Herzensangelegenheit. Sie selbst ist Mutter eines autistischen Sohnes und kennt die Probleme der Betroffenen nur zu gut. Um Menschen in ähnlicher Situation zu unterstützen, hat sie vor über drei Jahren eine Selbsthilfegruppe gegründet. Für ihr Engagement wurde die Brandenburgerin im Februar 2021 beim DAK-Wettbewerb „Gesichter für ein gesundes Miteinander“ ausgezeichnet. Seitdem hat sich im Leben von Carola Niekisch viel getan.

Carola Niekisch Sohn Christopher ist heute 26 Jahre alt, lebt in der Nachbarwohnung und führt mit ihrer Unterstützung ein weitgehend selbstbestimmtes Leben. Doch der Weg dorthin war alles andere als leicht. Schon früh wird Carola Niekisch bewusst, dass ihr Kind „anders“ als andere Kinder ist. Doch statt Hilfe erfährt sie nur jede Menge Unverständnis. Die Diagnosen reichen von Hochbegabung über geistige Behinderung bis ADHS. Immer wieder wird ihr vorgeworfen, ihr Kind zu verziehen und schuld an seinem auffälligen Verhalten zu sein. Erst nachdem ihr Sohn in der Grundschule versucht, den Freitod zu wählen und scheitert, bekommen sie die Diagnose Autismus. Die anfängliche Erleichterung verfliegt schnell, denn die Diagnose allein bedeutet noch keine Hilfe. Ein jahrelanger Kampf für die Belange ihres Kindes beginnt – denn das Unwissen über Autismus ist groß. Das möchte Carola Niekisch ändern.

Was hat Sie bewogen beim Wettbewerb „Gesichter für ein gesundes Miteinander“ mitzumachen?

Als ich über die Caritas-Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen das erste Mal von diesem Wettbewerb gehört habe, wollte ich gar nicht teilnehmen. Erst am Abend vor Teilnahmeschluss konnte mich mein Mann überzeugen. Ich engagiere mich, weil das mein Herzenswunsch ist, dafür brauche ich keine große Anerkennung. Das Lächeln eines Autisten, wenn er glücklich ist, ist für mich Lohn genug. Aber das Argument meines Mannes, dass dieser Wettbewerb helfen könne, zu zeigen, dass das Thema Autismus wichtig ist, hat mich letztendlich überzeugt.

 

Mit Ihrem Projekt „Hilfe zur Selbsthilfe – Autisten eine Stimme geben“ sind Sie Landessiegerin in Brandenburg geworden. Können Sie etwas über die Entstehung des Projektes erzählen?

Meine Selbsthilfegruppe gibt es jetzt gut drei Jahre. Ich habe mein Projekt „Autisten eine Stimme geben“ genannt, weil Autisten keine Lobby und auch keine Stimme haben. Es wird viel zu wenig über das Thema gesprochen. Ich finde es gut, dass es mittlerweile einige Filme gibt. Doch ich sehe bei diesen Filmen das Problem, dass es vermehrt um Asperger Autismus geht, was ohne Frage eine wichtige Form ist, jedoch ein falsches Bild von Autismus im Allgemeinen vermittelt. In diesen Filmen wird gezeigt, dass diesen Menschen zwar die Gefühlsebene fehlt, sie aber ansonsten ihr Leben selbstständig managen. So entsteht der Eindruck, dass keine größere Hilfe für Autistinnen und Autisten nötig wäre. Dass es aber ein breites Spektrum gibt, das bei zwei Arten von frühkindlichem Autismus anfängt über Asperger bis hin zu atypischem Autismus, darüber wird nicht gesprochen. Wenn wir aber nie darüber sprechen, wie soll dann die Inklusion zum Beispiel in Kindergärten und Schulen gelingen?

Wenn ich Eltern erklären kann, wie sich das Leben mit einem Autisten für beide Seiten schöner gestalten lässt und sie erkennen, dass dieses Kind ein Schatz ist und kein Ballast – dann haben wir es geschafft. Da sind wir auf einem sehr guten Weg.

Carola Niekisch

Können Sie ein Beispiel nennen, welche Hürden Sie für Ihren Sohn überwinden mussten. Wo hätten Sie sich mehr Unterstützung gewünscht?

Ich habe es zum Beispiel erst nach zweieinhalb Jahren Kampf geschafft, für meinen Sohn einen Schwerbehindertenausweis zu bekommen und bin dabei auf viel Unwissen gestoßen. Mit Autismus könne man doch wunderbar leben, das sei doch keine Behinderung. Das alles hat mich sauer gemacht und ich habe mich oft gefragt, ob ich die einzige Mutter mit einem autistischen Kind bin und wo ich Hilfe finden könnte. Ich war immer Einzelkämpferin und da geht einem irgendwann die Kraft aus. Mein Mann hat mich dann auf die Idee gebracht, eine Selbsthilfegruppe zu gründen – damit ich sehen kann, ob ich tatsächlich so allein bin. Ich habe das dann gemacht und gedacht, es wäre toll, wenn zu unserem ersten Gruppentreffen zwei Personen kommen würden. Letztendlich war der Raum voll und die Zeit hat gar nicht ausgereicht, um alle Geschichten zu hören. Wir haben dann kurzfristig ein zweites Treffen anberaumt und festgestellt, dass der Werdegang und der Leidensdruck bei 90 Prozent der Eltern und Kinder gleich sind, weil es keine Diagnose gibt. Dass Familien daran zerbrechen. Dass Familien sich verstecken, weil sie nicht auffallen möchten. Diese Treffen haben mich bestärkt, etwas verändern zu wollen und dann ging die Arbeit erst richtig los.

Ich möchte keine Expertin für Autismus sein. Ich bin nur Reiseleiterin. Ich versuche, eine Reiseleiterin zwischen ihrer und unserer Welt zu sein. Wenn ich in ein fremdes Land fahre, dessen Sprache und Klima ich nicht kenne und von dem ich nicht weiß, welche Bräuche und Sitten herrschen – dann freue ich mich über jemanden, der mich begleitet und mir hilft zurechtzukommen.

Carola Niekisch

Was hat sich seit dem Wettbewerb „Gesichter für ein gesundes Miteinander“ verändert?

Der Wettbewerb für ein gesundes Miteinander hat mir sehr geholfen. Mir als Person, aber viel, viel mehr den Autistinnen und Autisten. Ich bekomme seitdem viel Unterstützung. So habe ich nun zum Beispiel einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, in dem ich Erstgespräche durchführen kann. Diese sind wichtig, da viele Familien voller Scham sind und sich nicht sofort in eine Selbsthilfegruppe trauen. Das ändert sich nach diesen Gesprächen meistens. Für diese Möglichkeit bin ich sehr dankbar.

Wir haben außerdem eine wunderbare Website gesponsert bekommen, mit der wir jetzt ganz viele Menschen erreichen. Ich bekomme nun viele Mails von Menschen, die Fragen stellen oder zu unserer Gruppe dazukommen möchten.

Wiederum durch diese Website ist ein Autistenzentrum in Berlin auf uns zugekommen, das mit uns zusammenarbeiten möchte. Mein großer Traum war es schon immer, ein Autistenzentrum zu gründen, wo Autistinnen und Autisten so selbstbestimmt wie möglich leben können. Mit etwas Glück wird dies nun in den nächsten Jahren hier in Brandenburg Wirklichkeit.

Es kommen auch immer häufiger Kitas auf mich zu, die einen Vortrag über Autismus haben möchten. Das macht mich sehr glücklich, denn es zeigt, dass ein Umdenken stattfindet und Autismus wahrgenommen wird.

Außerdem wurde ich ermutigt, die Geschichten, die ich mit meinem Sohn erlebt habe, in einem Kinderbuch zu beschreiben. Und genau das mache ich jetzt. Der erste Band ist bereits fertig, inzwischen sitze ich am zweiten.

Wovon handelt Ihr Kinderbuch?

In dem Buch erzähle ich aus der Sicht meines Sohnes Christopher, da er es selbst nicht kann. Aus Christopher ist der kleine Frosch Klamsi geworden, der in einen Froschkindergarten geht und dort einen Ausflug mit dem Schiff macht. Ich habe die Namen verändert, doch in dieser Geschichte stecken unsere Erlebnisse. Die Botschaft soll sein, schaut euch diesen Frosch an, wie er sich nach und nach zu einem wundervollen Mitmenschen entwickelt. Alle Erfahrungen, die ich mit meinem Sohn gemacht habe, sind als versteckte Botschaften in dem Buch enthalten. Und um die Kinder nicht zu überfordern, nehme ich mir in jedem Band eine andere Eigenschaft des Autismus vor.

 

Für welche Altersgruppe eignet sich Ihr Buch?

Die Geschichte ist sehr niedlich gehalten und eignet sich sicherlich schon ab vier Jahren. Aber auch Achtjährige können es noch lesen. Das Wort Autismus kommt nur ein einziges Mal in dem Buch vor. Auch Kinder, die sehr introvertiert sind oder andere Schwierigkeiten haben, in einer Gruppe anzukommen, werden sich in diesem Buch wiederfinden. Ich habe mich bewusst entschieden, ein Kinderbuch zu schreiben, weil ich hoffe, dass dieses von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern vorgelesen wird und so schon früh ein Umdenken stattfinden kann.

 

Wie gefällt Ihrem Sohn das Buch? Konnte er sich wiederfinden?

Ich habe das Buch natürlich meinem Sohn gezeigt und er hat ziemlich schnell bemerkt, dass ich unsere Schifffahrt beschreibe. Womit er weniger anfangen konnte, waren die Bilder, denn er versteht keine Mimik. Das habe ich zum Anlass genommen, Klamsi nicht nur die Mimik eines Autisten zu geben, sondern auch die Körperhaltung. Außerdem hat die Zeichnerin viele kleine Details von meinem Sohn einfließen lassen. Dadurch wurde es für ihn einfacher. Nach und nach hat er verstanden, wer die anderen Figuren sind und dass es wirklich seine Geschichte ist. Er war dann sehr stolz und für mich war es besonders schön, dieses Buch gemeinsam mit ihm anzuschauen.

 

Was sind Ihre weiteren Pläne?

Wir planen schon länger eine Notfall-App zu entwickeln, dies setzen wir nun mit der Technischen Hochschule Brandenburg um. Am Ende wird es einen QR-Code geben, den jeder scannen kann. In der App können Betroffene ihre Notfalldaten hinterlegen. Es ist Platz für Besonderheiten und eine Kontaktadresse für Notfälle. Denn jede Autistin und jeder Autist reagiert auf etwas anderes zum Beispiel Licht, Gerüche oder Geräusche, dies kann in der App festgehalten werden. Ursprünglich sollte diese App nur für meine Autisten sein. Doch das wäre zu schade, denn die App kann auch anderen Menschen zugutekommen, wie zum Beispiel Alzheimerpatientinnen und -patienten. Es wird also keine reine Autismus-App.

Außerdem soll im Sommer oder spätestens Herbst 2022 mein zweites Kinderbuch erscheinen. Ich werde Klamsi immer weiter begleiten. Er wird irgendwann in die Schule kommen und auch das Thema Trauer wird eine Rolle spielen.

 

Klingt nach viel Arbeit und einem aufregenden Jahr für Sie.

Oh ja, durch all das, was sich seit der Preisverleihung im Februar getan hat, habe ich nun sogar noch gemeinsam mit meinem Mann den Brandenburger Inklusionspreis 2021 bekommen. Ich bin mir sicher, ohne den Wettbewerb „Gesichter für ein gesundes Miteinander“ wären viele Sachen nicht so kurzfristig und schnell entstanden. Oder vielleicht gar nicht entstanden. Diese Auszeichnung war für mich die Bestätigung, dass das Thema wichtig ist und ich weiter machen soll. Das hat mir so viel Aufwind gegeben. Glücklicherweise bekomme ich auch viel Rückhalt von meiner Familie, meinem Mann und meinen Schwiegereltern.

Weitere Informationen zum Buch sowie Bestellmöglichkeiten finden Sie auf der Website autismusgruppe-in-brandenburg.de.

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Wettbewerb „Gesichter für ein gesundes Miteinander“

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Wenn ihr Gesundheit für euch und andere Menschen weiterdenkt, warten tolle Preise und Auszeichnungen auf euch.

Die Bewerbungsfrist läuft noch bis zum 15.1.2022. 

Nina Alpers