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„Mittagsstunde“: Pflege als Herausforderung und Chance

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Die Diagnose Demenz wird immer häufiger. Pflegebedürftige werden in Deutschland überwiegend zu Hause versorgt, meist durch Angehörige. Diese hochaktuellen und emotionalen Themen bringt der Film „Mittagsstunde“ nach dem Bestseller von Dörte Hansen jetzt in die Kinos.

440.000 Menschen sind hierzulande 2021 neu an einer Demenz erkrankt, so hat es die Deutsche Alzheimer Gesellschaft (DAlzG) berechnet. Insgesamt 1,8 Millionen leben jetzt mit einer Demenz-Erkrankung. Der DAlzG zufolge sind wesentlich mehr Betroffene unter 65 Jahre alt als bisher. Dies wird zwar vor allem auf eine verbesserte Diagnostik zurückgeführt, macht aber dennoch deutlich, was für eine Rolle die Erkrankung noch spielen wird – und wie bestimmend sie auch für die Lebenswirklichkeit pflegender Angehöriger sein dürfte.

 

Hohe Verbundenheit

Laut dem Pflegereport der DAK-Gesundheit können sich 68 Prozent der 16- bis 39-Jährigen vorstellen, Angehörige zu pflegen. „Wir beobachten eine Generationenverbundenheit mit einer hohen Qualität. Die Kinder und Enkelkinder lassen ihre Eltern und Großeltern nicht allein, weil sie sich mit ihnen eng verbunden fühlen“, sagt der Pflegeexperte Professor Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg. „Mittagsstunde“ setzt das Thema literarisch und filmisch um: 2018 erschien der Roman von Dörte Hansen, ab dem 22. September ist der Film zum Buch in den Kinos zu sehen. Dörte Hansen konfrontiert ihren Protagonisten mit der Gebrechlichkeit seiner Großeltern. Der wortkarge Endvierziger Ingwer Feddersen, der sich ein Jahr lang um seine „Olen“ kümmert, wird im Film von Charly Hübner verkörpert. Wir haben mit der Autorin – selbst Mitglied der DAK-Gesundheit – gesprochen.

„Mittagsstunde“

Dörte Hansen schildert in ihrem Roman „Mittagsstunde“, wie in der nordfriesischen Provinz über die Jahre eine Lebenswelt verschwindet. Die Dorflinde fällt, Hecken müssen weichen. Für Kinder wird es lebensgefährlich, auf der Straße zu spielen, und der einst so rege frequentierte Dorfkrug verwaist. Gleichzeitig schwindet in den Passagen, die in der Gegenwart spielen, die Persönlichkeit der dementen Ella. Ihren Enkel, den sie wie einen Sohn aufgezogen hat und der sich während eines Sabbatjahrs um seine Großeltern kümmert, erkennt sie schließlich gar nicht mehr.


 

„Humor ist in jeder Lebenslage eine große Hilfe“

 


 

Dörte Hansen

In „Mittagsstunde“ geht es unter anderem um Alter, Demenz und die Pflege durch Angehörige. War es von vornherein Ihr Plan, darüber zu schreiben?
Ausgangspunkt waren diese Themen nicht, aber sie sind wichtig für meinen Roman. Durch die Demenz und die Gebrechlichkeit seiner Großeltern kehrt sich für meinen Protagonisten Ingwer Feddersen die Rollenverteilung in der Familie um. Früher war er das Kind, das versorgt wurde. Jetzt übernimmt er Verantwortung und Fürsorge für die beiden Alten. Zusätzlich gibt mir die Demenz der Ella Feddersen die Möglichkeit, ihr jahrzehntelanges Doppelleben zu enthüllen. Sie bringt die drei wichtigen Männer ihres Lebens – ihren Mann Sönke, Ingwer und Lehrer Steensen – zunehmend durcheinander.

Haben Sie selbst Erfahrungen mit den Themen Pflege und Demenz gemacht?
Ich habe, als ich noch Journalistin war, zu dem Thema recherchiert. Besonders viel gelernt habe ich bei einer Reportage über Männer, die ihre Frauen pflegten. Einer dieser Männer hatte blaue Flecken auf den Oberschenkeln, weil seine demenzkranke Frau manchmal so zornig wurde, dass sie ihn mit den Fäusten schlug. Er hat das nicht verstanden, aber mit großer Würde ertragen. Dieses Detail ist eingeflossen in meinen Roman. Ella schlägt Sönke auch, wenn er zu dicht neben ihr sitzt.

In der Verfilmung von „Mittagsstunde“ ist mir aufgefallen, dass die Dame vom Pflegedienst mit ihrer Patientin anders umgeht als ihr Enkel, distanzierter und eher „von oben herab“ als auf Augenhöhe …
Diese Szene gibt es nur im Film, nicht im Roman. Catharina Junk, die das Drehbuch geschrieben hatte, brauchte eine Situation, in der klar wird, dass Ingwer Feddersen sich eigentlich übernimmt mit der Pflege seiner Großeltern. Ich finde gar nicht, dass die Pflegerin die beiden „von oben herab“ behandelt. Sie ist nur sichtlich unter Zeitdruck und sehr skeptisch, was Ingwers „Pflegeambitionen“ angeht.

Schlager „aus der guten alten Zeit“ spielen in Buch und Film eine große Rolle. Tatsächlich erreicht man mit Musik häufig auch noch Erkrankte im fortgeschrittenen Stadium, sie kann positive Gefühle und Erinnerungen wecken. Stecken in „Mittagsstunde“ noch andere Anregungen für den Umgang mit dementen Personen?
Ich bin ja leider keine Expertin für das Thema, aber ich hatte, bevor ich den Roman geschrieben habe, von Filmen für demenzkranke Menschen gelesen. Ein paar dieser Filme habe ich mir angesehen. Einer heißt „Hunde, unsere treuen Freunde“ und ist in einer Szene von „Mittagsstunde“ zu sehen.


Sönke (Peter Franke) und Ella (Hildegard Schmahl) auf einem Ausflug ans Meer. Im Vordergrund: frische Krabben, um Ellas ruhelosen Händen am Abend eine Beschäftigung zu geben.


Ella ist ausgebüxt – aber ihr Enkel hat sie gefunden.

Die alte Ella hat meist einen Plüschvogel in der Hand. „Meine Frau hat eine Meise“, scherzt ihr Mann. Ist es wichtig für die Angehörigen, über das Thema auch mal Witze machen zu können?
Unbedingt! Humor ist in jeder Lebenslage eine große Hilfe, finde ich.

Wie unterscheidet sich der Umgang mit dem Alter – oder auch mit „wunderlichen“ Menschen wie Ingwers Mutter Marret – im ländlichen Raum von dem im urbanen? Beobachten Sie hier auch einen Wandel?
Ich glaube, dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land heute weniger groß sind als früher. Für eine Person wie Marret hätten wir heute sicher eine Diagnose, eine Therapie und vielleicht eine Einrichtung, in der sie leben würde. Früher nahm man solche Menschen einfach hin und kümmerte sich nicht groß um sie. Das hatte Vor- und Nachteile.

Ihr Protagonist geht aus der emotional herausfordernden Zeit trotz allem gestärkt hervor, bereit für einen Neuanfang. Ist das etwas, was man aus „Mittagsstunde“ lernen kann: Dass in einer solchen Konfrontation mit der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen auch eine Chance liegen kann?
Das glaube ich tatsächlich. Wir können und müssen ein Leben lang wachsen und lernen – manchmal unter Schmerzen.

Wenn Sie sich Neuregelungen für das Thema Pflege wünschen könnten, was fänden Sie besonders wichtig?

Bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Entlohnung für Pflegekräfte. Und Seniorenheime, die nicht profitabel sein müssen.

Ist die Vorstellung, im Alter selbst einmal so auf Unterstützung angewiesen zu sein, etwas, das Ihnen Angst macht? Wie gehen Sie damit um?

Ja, die Vorstellung ist sehr bedrückend und beängstigend. Ich verdränge sie und hoffe, dass dieser Kelch an mir und meinen Angehörigen vorübergehen möge.

Interview: Annemarie Lüning

Fotos: Majestic | Sven Jaax