Eine schwere Erkrankung, ein Unfall: Jeder Mensch kann plötzlich auf eine lebensrettende Transplantation angewiesen sein. Wir haben mit einer Expertin gesprochen. Über die Rolle der Pandemie, die neu in Kraft getretene Entscheidungslösung und darüber, weshalb es so wichtig ist, zu dem Thema eine persönliche Haltung zu entwickeln.
9.000 Menschen. So viele haben in Deutschland 2021 auf ein neues Leben gewartet. Die meisten, weit über 7.000, brauchten eine neue Niere, andere eine Leber oder ein Herz. 3.000 Organe von knapp 1.000 Verstorbenen wurden laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gespendet. Aktuellen Umfrageergebnissen zufolge könnte die Zahl deutlich höher sein: 84 Prozent der Menschen in Deutschland geben an, Organ- und Gewebespenden positiv gegenüberzustehen. Laut dem Kommissarischen Direktor der BZgA Martin Dietrich kämen viele Spenden nicht zustande, weil der Wille nicht eindeutig mitgeteilt werde. Dr. Ebru Yildiz, Leiterin des Westdeutschen Zentrums für Organtransplantation der Universitätsmedizin Essen, hat sich unseren Fragen zum Thema gestellt.
Haben Sie selbst schon Organe entnommen oder transplantiert?
Nein. Ich bin von Haus aus Internistin und habe insbesondere Menschen vor und nach Nierentransplantationen betreut. Als Transplantationsbeauftragte der Klinik habe ich zweieinhalb Jahre die Prozesse zwischen Angehörigen, ärztlichem Team und der bundesweiten Koordinierungsstelle Deutsche Stiftung Organtransplantation begleitet.
Sicher eine Rolle, die einem ans Herz geht …?
Auf jeden Fall. Die ersten Male, in denen Spenden vollzogen wurden, fiel es mir schwer, mich hinterher zu freuen, schließlich war gerade ein Mensch gestorben. Ich musste mir erst bewusst machen, dass die Person auf jeden Fall gestorben wäre, so aber noch helfen konnte. Trotzdem trauert man mit.
Pandemie, Ukraine-Krieg – beeinflussen sie die Situation rund um die Organspende?
Derartige Krisen erhöhen meist den Wunsch, anderen etwas Gutes zu tun. Es belastet jedoch gerade kleinere Kliniken sehr, wenn durch Infektionen die Personalressourcen schrumpfen. Hinzu kommt, dass Covidpositive erst seit März – wegen der starken Durchseuchung – als Spenderin oder Spender herangezogen werden dürfen, sofern die empfangende Person damit einverstanden ist.
Zum 1. März 2022 hat sich auch die Gesetzgebung zur Transplantation geändert. Was für Konsequenzen hat das?
In Deutschland bleibt es bei der Entscheidungslösung: Organe oder Gewebe dürfen nur entnommen werden, wenn der oder die Verstorbene dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. Ist der Wille nicht dokumentiert, müssen die Angehörigen entscheiden. Im Organspendeausweis kann man auch ein Nein als Willen angeben. Geplant ist, ein bundesweites Organ- und Gewebespendenregister einzurichten, das allerdings nicht vor nächstem Frühjahr fertig wird. Auch bei der neuen Möglichkeit, beispielsweise beim Abholen des Personalausweises über die Organspende informiert zu werden, muss nachgesteuert werden. Ferner sollen Hausarztpraxen dabei unterstützt werden, zu dem Thema zu beraten. Nicht zuletzt werden die Transplantationsbeauftragten der Kliniken für ihre Aufgabe jetzt freigestellt, was ich sehr begrüße.
Welche Bedingungen müssen konkret gegeben sein, damit eine Spende möglich ist – eine Einwilligung mal vorausgesetzt? Wie wahrscheinlich ist es, dass ein solcher Fall eintritt?
Spenderinnen und Spender müssen auf der Intensivstation versterben, da nur dort das Herz-Kreislauf-System für gewisse Zeit künstlich aufrechterhalten werden kann, und zwei Fachärzte oder -ärztinnen müssen in zwei zeitlich verschiedenen Untersuchungen den irreversiblen Hirnfunktionsausfall feststellen. Die medizinischen Bedingungen erfüllt nur einer von hundert Todesfällen in einer Klinik. In puncto Alter oder chronische Erkrankungen gibt es fast keine Ausschlusskriterien. Nur akute HIV-Infektionen und aktive Krebserkrankungen sprächen gegen eine Spende. Wenn eine Krebserkrankung länger als zwei Jahre zurückliegt, wird individuell geprüft, ob eine Spende möglich ist.
Dr. Ebru Yildiz
Leiterin des Westdeutschen Zentrums für Organtransplantation der Universitätsmedizin Essen
Also betrifft mich die Frage, ob ich im Fall der Fälle Organspender oder -spenderin sein möchte, auch im höheren Lebensalter noch?
Ja, ein Organspendeausweis lohnt sich immer. Auch Spenden von über 80-Jährigen können anderen Menschen noch wertvolle Lebenszeit schenken. In der Regel gehen ältere Organe auch an betagtere Empfängerinnen und Empfänger. Natürlich würden wir uns freuen, wenn die Entscheidung pro Spende bereits im jüngeren Lebensalter getroffen werden würde. Die Spenderinnen und Spender werden immer älter.
Weshalb ist es so wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und seine Haltung zu dokumentieren?
In der Klinik sind alle froh, wenn sie wissen, was der Wunsch des Patienten oder der Patientin gewesen ist und dass er oder sie sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Dabei ist es egal, ob das Ergebnis ein Ja oder Nein ist oder ob nur bestimmte Organe oder Gewebe gespendet werden sollen. Auch für die Angehörigen macht Klarheit die Situation leichter. Mein Favorit wäre deshalb die zwingende Erklärungslösung (siehe unten „Wie mit der Organspende umgehen?“), bei der eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema verpflichtend ist.
Wird die Möglichkeit, differenziertere Wünsche festzuhalten, tatsächlich genutzt? Und was sind die Unterschiede zwischen einer Organ- und einer Gewebespende?
Ich erinnere mich an eine Patientin, die bewusst nur ihr Herz gespendet hat. Sie wollte, dass es weiterschlägt, und so ist es auch gekommen. Und zum Unterschied: Ein Mensch, der ein Spenderorgan benötigt, würde sonst sterben. Nur der Ausfall der Niere lässt sich zeitweilig überbrücken. Gespendetes Gewebe – zum Beispiel Haut, Augenhornhaut oder Knochen – bedeutet „nur“ eine deutliche Verbesserung von Lebensqualität bei der empfangenden Person. Eine Gewebespende muss auch nicht sofort vermittelt werden, sondern kann in Gewebebanken gelagert werden.
Welchen Vorbehalten begegnen Sie besonders häufig?
„Bin ich denn dann wirklich tot?“, das ist eine Grundangst. Und auch die Vorstellung, als potenzieller Spender oder Spenderin im Ernstfall nicht gut versorgt zu werden. Die Organspende ist und bleibt ein emotionales, sehr kontrovers diskutiertes Thema. Ich respektiere persönliche Haltungen dazu, stelle aber immer wieder fest, dass es vielen Menschen an Informationen fehlt.
Organspendeausweis
Auf der Website des Bundesministeriums für Gesundheit können Sie sich einen Organspendeausweis herunterladen, ausdrucken und ausfüllen.
Wie lassen sich die Vorbehalte entkräften?
Ein Mensch, bei dem keine Hirnstammreflexe mehr auslösbar sind – Bedingung für die Spende –, ist definitiv tot, spürt nichts mehr und könnte nicht mehr ins Leben zurückkehren. Man darf solche Fälle nicht mit einem Koma verwechseln. Sie können sich dafür oder dagegen entscheiden, zu helfen; an Ihren eigenen Aussichten ändert das überhaupt nichts. Die Versorgung vor dem Tod muss, wenn eine eventuelle Spende im Raum steht, sogar mehr als gut sein. Nur durch allerbeste Intensivmedizin bleiben die Organe funktionsfähig.
Auch über einen würdigen Abschied machen sich viele Menschen Gedanken.
Im Mittelpunkt stehen immer der Patient, die Patientin, und die Angehörigen, es geht nicht darum, unter allen Umständen eine Spende umzusetzen. Wenn beispielsweise noch ein Familienmitglied anreist, um sich zu verabschieden, versucht das ärztliche Team, das zu ermöglichen. Wenn die Spende dadurch in Gefahr gerät, entscheidet die Familie. Auch nach der Organentnahme ist eine Verabschiedung möglich, das nehmen aber nur wenige in Anspruch.
Wie geht es mit gespendeten Organen weiter, wer regelt das?
Die Entscheidung, an wen das Organ geht, trifft die Stiftung Eurotransplant nach einem Punktesystem zu Erfolgsaussichten und Dringlichkeit. Für die Chance auf eine neue Leber müssen Alkoholkranke beispielsweise eine sechsmonatige Abstinenz nachweisen. Die Kontrollmechanismen sind sehr scharf.
Und wie sind die Aussichten auf der Empfängerseite?
Mittlerweile kann man noch sehr viel besser ermitteln, zu wem ein Organ passt. Mit einer neuen Niere bekommt ein Mensch durchschnittlich zehn Jahre Lebenszeit. Danach kann er oder sie erneut auf die Warteliste kommen. Erst neulich ist mir ein Patient begegnet, der seit 26 Jahren mit einer Spenderniere lebt und voller Freude von seinem guten Leben als Großvater berichtet hat. Besonders bewegen uns Ärztinnen und Ärzte auch immer Fälle von Kindern. Es ist wunderbar zu wissen, dass man einem Kind, bei dem ein Organ nur unzureichend funktioniert hat, eine normale Entwicklung ermöglichen kann. Wenn das durch Tabletten möglich wäre, wäre das genauso schön. Doch die Alternative haben wir eben nicht.
Begriffserklärung
Wie mit der Organspende umgehen?
Sind wir potenziell alle Organspenderin oder -spender? Oder ist unser Ja unumgänglich, bevor es zu einer Spende kommen kann? Darauf sind unterschiedliche Antworten denkbar. Ein Überblick über in Europa übliche oder diskutierte Lösungen.
Zustimmungslösung: Organe oder Gewebe dürfen nur entnommen werden, wenn Spenderinnen und Spender sich vor dem Tod explizit für eine Spende ausgesprochen haben oder – falls keine Entscheidung dokumentiert ist – wenn die Angehörigen zustimmen (erweiterte Zustimmungslösung).
Erklärungslösung: Hierbei sollen die Bürgerinnen und Bürger in einem geregelten Verfahren über die Organspende informiert und zu einer persönlichen Erklärung aufgefordert werden, ob sie einer Spende zustimmen, nicht zustimmen oder sich nicht erklären möchten.
Entscheidungslösung: Der Staat arbeitet hierbei verstärkt auf eine Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger für oder gegen Organspende hin. Dazu versorgt er sie regelmäßig mit neutralen und ergebnisoffenen Informationen. Liegt keine Entscheidung vor, werden die Angehörigen gefragt. Die Entscheidungslösung gilt seit 2012 in Deutschland, seit März 2022 in modifizierter Form.
Widerspruchslösung: Wer einer Organ- oder Gewebespende nicht ausdrücklich widersprochen hat, gilt automatisch als Spender oder Spenderin. Ist die am meisten verbreitete Regelung zur Organspende in Europa. In einigen Ländern haben Angehörige das Recht, einer Organentnahme zu widersprechen, wenn keine Entscheidung der verstorbenen Person vorliegt (erweiterte Widerspruchslösung). In Deutschland wurde die Widerspruchslösung 2020 vom Bundestag abgelehnt.
Gut zu wissen: Bei Tod im Ausland greift das jeweilige Landesgesetz. Wer nicht spenden möchte, sollte deshalb etwa beim Urlaub in Österreich (Widerspruchsregelung) einen Spenderausweis mit einem entsprechenden Eintrag mit sich führen. Mehr dazu unter: organspende-info.de/gesetzliche-grundlagen/entscheidungsloesung/
Interview: Annemarie Lüning