Wie waren die ersten Anzeichen für Demenz bei Ihrer Großmutter?
Das erste Mal begegnete mir diese Schusseligkeit, als meine Oma vor der Kaffeemaschine stand und nicht mehr wusste, wie sie die Maschine bedienen sollte. Oder Omi, die seit 60 Jahren fantastisch kochte, stellte uns den Grießbrei hin und der war auf einmal mit Salz gemacht statt mit Zucker. Das sind so Kleinigkeiten, wo ich im Nachhinein weiß: Das waren Symptome der Demenz. Aber in dem Moment hast du natürlich keine Ahnung. „Omi, jetzt denk‘ doch mal nach“, war da einer der beliebtesten Sätze. Der ist für Menschen mit Demenz natürlich unheimlich verletzend, denn sie spüren ohnehin, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Aber wir waren einfach nicht aufgeklärt.
Wie hat die Demenz Ihre Großmutter in den folgenden Jahren verändert?
Viele sagen ja: Das ist ein langsamer Abschied. Ich finde das eine ganz fatale Bezeichnung, denn wir alle verändern uns mit jedem Tag, mit jeder Erfahrung. Wir bleiben nie der Mensch, der wir noch vor einer Stunde waren. Und meine Großmutter hat sich eben auch täglich verändert. Ich kann nur sagen, dass wir als Familie unheimlich viele Fehler gemacht haben, indem wir uns viel zu spät Hilfe geholt haben. Nach alternativen Kommunikationsformen haben wir gar nicht gesucht, weil wir davon nichts wussten. Hätten wir das Wissen gehabt, das ich heute habe, hätten wir viel mehr schöne, gemeinsame Momente erleben können. Das ist jetzt auch ein Stück weit meine Mission – nach außen zu gehen und den Leuten zu sagen: „Macht nicht die Fehler, die wir gemacht haben, macht euch sichtbar, holt euch Hilfe, geht nach draußen.“ Ansonsten ist das für alle Beteiligten wirklich ein Kampf und ein Verlust, denn man sieht gar nicht, was man vielleicht auch dazugewinnen kann.
Was meinen Sie mit alternativen Kommunikationsformen?
Bei Menschen mit Demenz nimmt der Verstand ab – sie können nicht mehr rechnen, sich nicht mehr so gut orientieren, irgendwann verlieren sie auch ihre Sprache. Stattdessen rückt das Gefühl ganz stark in den Vordergrund. Und über Gefühle kann ich die Menschen bis zum Ende noch erreichen. Das heißt: über die Sinne gehen, über Musik, Poesie und Zärtlichkeit. Einfach einmal innehalten und eine Hand anbieten. Bei meiner Großmutter waren wir auch dazu geneigt, nur noch den pflegerischen Aspekt zu sehen: „Hast du etwas getrunken? Hast du etwas gegessen? Warst du schon auf Toilette?“ Es dreht sich alles nur noch um das Äußere, weil man nicht mehr weiß, wie man den anderen erreichen soll. Aber die Menschen sind noch da und Omi war auch noch da und in einigen Momenten der guten Intuition haben wir sie auch noch erreicht, zum Beispiel über gemeinsame Aktivitäten wie Fotos gucken, ein Lied singen, an früher denken oder auch nur im Park sitzen, Händchen halten und die Vögel beobachten.
Was war in der Zeit der Pflege am schwierigsten für Sie?
Das war das Leid meiner Mutter, weil sie als nächste Angehörige daran zugrunde gegangen ist, an den Beschimpfungen, den Missverständnissen, der Unwissenheit. Da hat sie sich extrem aufgerieben. Mit Abstand, als Enkelin, konnte ich immer noch einmal die Flucht ins eigene Leben als Aufladegerät nutzen. Aber meine Mutter ist daran wirklich zerbrochen. Es gibt auch viele Studien dazu, dass die Menschen, die sich so aufopfernd verhalten und ihr eigenes Leben komplett aufgeben, um dem anderen gerecht zu werden, oft selber zum Pflegefall werden. Ja, das tat mir am meisten weh. Auch mich vor meiner Großmutter so sehr zu fürchten, wie noch nie zuvor in meinem Leben – weil ich den Wahnsinn in ihren Augen gesehen und falsch reagiert habe und man sich gegenseitig hochgeschaukelt hat.
Was waren das für Situationen, in denen Sie Ihre Oma so böse erlebt haben?
Das waren Situationen, als sie zum zehnten Mal am Tag unten vor unserer Tür stand und wiederholt rein wollte, wo man dann irgendwann auch nicht mehr aufmachte oder nicht sofort, weil man dringend einmal ein paar Minuten allein brauchte. Sie hatte aber vergessen, dass sie schon zehnmal da war und war natürlich total entsetzt darüber, dass ihre eigene Familie nicht aufmachte. Wenn ich dann die Tür öffnete, stand sie da mit wütendem Gesichtsausdruck und schimpfte – das tat so weh. Eine schlimme Situation gab es auch einmal zu Weihnachten. Da ist es ja immer wahnsinnig stressig, bevor es dann schön wird. Endlich war es so weit, der Baum war geschmückt, wir hatten uns chic gemacht und dann kam meine Großmutter endlich von oben runter … Sie kam aus dem Fahrstuhl mit ausgestrecktem Zeigefinger und wutentbranntem Gesicht und schnauzte uns alle an: „Ihr habt mir meine Geschenke geklaut!“ Was passierte? Meine Mutter brach zusammen und weinte: „Wie kannst du nur, ich gebe mir hier seit Tagen Mühe und du ruinierst uns das Fest!“ Mein Vater ging in Richtung Mini-Bar und schenkte sich erstmal einen ein, was auch total verständlich war, und ich wusste nicht weiter. Im Nachhinein, als sie dann ausgezogen war, haben wir ihre Geschenke in einer Wanduhr und unter der Matratze wiedergefunden. Sie hatte einfach vergessen, wo sie ihre Geschenke hingetan hatte.
Sie sprechen lieber von demenziell veränderten Menschen als von Demenzkranken – warum?
Ich habe eine Betroffene gefragt, wie sie es gerne hätte. Sie sagte mir, dass sie nicht auf die Krankheit reduziert werden möchte. Die Bezeichnung „Demenzkranker“ tut aber genau das. Die Bezeichnung „demenziell verändert“ fand sie viel besser und so habe ich das gerne übernommen. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun. Genauso wenig finde ich es gut, dass die Bewohner in den stationären Einrichtungen Patienten genannt werden, denn auch diese Bezeichnung reduziert auf die Krankheit.
Sie und Ihre Familie wollten Ihre Großmutter um jeden Preis selbst pflegen. Wenn Sie daran dachten, sich Hilfe zu holen, hatten Sie ein schlechtes Gewissen. Was würden Sie heute in einer solchen Situation anders machen?
Sofort nach draußen gehen! Das ist allgemein das Problem, das wir in unserer Gesellschaft haben: Von den 1,6 Millionen demenziell veränderten Menschen werden über 70 Prozent noch zu Hause gepflegt. Gerade einmal ein Drittel dieser Menschen nimmt Hilfe an. Aber von der Alzheimer Gesellschaft, über Pflegestützpunkte, Betreuungsgruppen und Tagespflege bis hin zu Hilfsmitteln gibt es so viele Möglichkeiten. Da darf man all das, was einen bewegt, ansprechen und kann dann gemeinsam nach Lösungen suchen. Die Windel meiner Mutter zu wechseln, hat mir mein Herz gebrochen, das tat unglaublich weh. Und das sind so Sachen, die man abgeben darf. Dafür gibt es die Pflegeunterstützung. Und es ist auch gut, wenn ich diese Unterstützung annehme – ich bin dann eben für die emotionale Seite zuständig.
Die Pflege eines schwer kranken Angehörigen ist sehr anspruchsvoll und zehrend. Viele Menschen verzweifeln in dieser Zeit, weil sie erschöpft sind und sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlen. Was hat Ihnen geholfen, diese schwierige Zeit durchzustehen?
Es kann schon helfen, mit den Nachbarn oder Freunden zu reden. Die meisten ziehen sich zurück, weil sie nicht wissen, wie sie helfen sollen. Aber wenn man den Menschen sagt, was sie tun können, sind die meisten dankbar und wollen gerne helfen. Also gezielt auf die Menschen zugehen und um Unterstützung bitten, beispielsweise um eine Stunde Vorlesen oder einen Spaziergang mit der zu pflegenden Person. Dann bekommt man Unterstützung. Man muss nur den ersten Schritt wagen und sich sichtbar machen. Sich Hilfe zu holen, ist ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche.
Sie haben Ihre Großmutter 2007 in ein Heim gegeben. Wie kam es zu dieser schweren Entscheidung?
Wie so oft kam diese Entscheidung viel zu spät, nach Unfällen im Haushalt, wo man dann sagt: „Jetzt geht es nicht mehr.“ So war es bei meiner Großmutter auch. Sie ist in einer halben Stunde, als meine Mutter gerade nicht da war, gestürzt, hat sich ganz böse den Kopf aufgehauen und lag blutend auf dem Boden. Meine Mutter hat sie so vorgefunden und das war ganz schlimm für meine Mutter damals, da ist auch wieder ein Stück ihrer Welt zerbrochen. Da macht man sich natürlich Vorwürfe, es wird langsam lebensgefährlich und man braucht eine 24-Stunden-Betreuung. Meine Mutter war einfach am Ende und so haben wir in einer Nacht- und Nebel-Aktion ein Heim gesucht. Das war der schlimmste Moment für uns. Das war fast schlimmer als ihr Tod, weil wir dachten: „Wir sind schlechte Menschen. Wir haben unsere Mutter, unsere Großmutter abgeschoben und haben es nicht geschafft, ihr das Leben und auch den Tod zu Hause zu gewähren. Wir haben versagt. Wir sind eine schlechte Familie.“
Sie hätten sich mehr Beistand durch das Personal im Pflegeheim gewünscht …
Ja, da ist leider niemand auf uns zugekommen und hat gesagt: „Sie haben es genau richtig gemacht, dafür sind wir jetzt da.“ Das hätte uns ein Stück weit die Last von den Schultern genommen. Deswegen versuche ich heute, daran mitzuwirken, dass Brücken gebaut werden zwischen professionell Pflegenden, Angehörigen und Betroffenen. Mit uns als Angehörigen hat damals leider kaum jemand geredet, weil wir als Angehörige aber oft auch nur Vorwürfe machen. Ich habe mich zum Beispiel oft darüber beschwert, dass meine Großmutter nicht beschäftigt wird, dass ihre Bluse oder ihr Schmuck verschwunden waren. Ich wusste nicht, dass meine Großmutter im 5-Minuten-Takt gefragt wurde: „Möchten Sie gerne mit herunterkommen, um zu malen?“ Ich wusste auch nicht, dass Omi ihren Schmuck unter der Matratze versteckt hat, und ich wusste auch nicht, dass regelmäßig Dinge in den Zimmern verschwinden. Das ist einfach ein Stück weit auch die Demenz, dass sich ständig irgendjemand irgendwo bedient und denkt: „Meins.“ Der Klügere gibt nach und in diesem Fall sind die professionell Pflegenden die Klügeren, denn sie sagen mir in Schulungen heute oft, dass sie Angehörigen ausweichen, weil sie einfach keine Lust haben, sich immer wieder diese Vorwürfe anzuhören, wenn sie schon kräftemäßig am Ende sind und kaum noch Zeit zum Atmen haben. Dann noch diese Nicht-Anerkennung zu bekommen und diese Vorwürfe, das macht den Alltag natürlich nicht leichter.
Schwierig ist für viele pflegebedürftige Menschen auch die mangelnde Möglichkeit zum Ausleben ihrer Sexualität. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Schräge! Also bei meiner Omi war es kein Thema, aber vielleicht auch, weil wir nicht hingucken wollten. Eine meiner ersten Erfahrungen mit diesem Thema war, dass in einem Heim ein relativ junger Mann um die 55 mit einer alkoholbedingten Demenz mit einem relativ flehenden, aber sympathischen Ausdruck auf mich zu kam und mich ganz ernsthaft anbaggerte. Das war eine ganz verrückte Situation. Und dann beobachtete ich ihn weiter, wie er mit diesem großen Drang und seiner Bitte um Sex zu jeder weiteren Frau ging und den Pflegerinnen, die er schon ewig kannte, in den Schritt und an die Brüste griff. Diese sexuelle Belästigung ist ein großes Thema für die professionell Pflegenden, das oft nicht ernst genommen wird. Sexuelle Belästigung in der Häuslichkeit ist auch ein Thema, das häufig totgeschwiegen wird. Man redet da ja nicht drüber.
Zusammen mit der DAK-Gesundheit produzieren Sie jetzt die Video-Reihe „PflegeLeicht“ auf dak.de, in der Sie hilfreiche Tipps zur Pflege von Angehörigen mit Demenz geben. Welche Themen werden dort angesprochen?
Ich finde es super, dass ich mit der DAK-Gesundheit einen Partner gefunden habe, der anerkennt, dass in diesem Bereich sofort gehandelt werden muss. Der DAK-Gesundheit ist ganz klar: Wir müssen die pflegenden Angehörigen an die Hand nehmen und sie unterstützen. Und da geht es nicht nur um die körperlichen und pflegerischen Aspekte, sondern ganz besonders um emotionale. Allen Betroffenen soll vermittelt werden: „Ihr seid nicht allein.“ Innerhalb kürzester Zeit hat sich die DAK-Gesundheit sehr geöffnet und ich bin wirklich glücklich, dass wir meine Ideen gemeinsam umsetzen. In den Videos geht es jetzt um Themen wie „Sexualität und Demenz“, „Wie mache ich eine Wohnung demenzgerecht?“ oder auch „Autofahren mit Demenz“. Es kommen zahlreiche Experten wie zum Beispiel Musiktherapeuten und Sexualassistenten zu Wort. Diese Videos sind natürlich in erster Linie für pflegende Angehörige gedacht, aber auch für Interessierte, Laien, Freunde und eigentlich für unsere ganze Gesellschaft.
Sie interviewen auch direkt Betroffene, unterhalten sich zum Beispiel mit einer älteren Dame, die an Demenz erkrankt ist. Das ist ja sehr spannend!
Das ist mir auch ganz wichtig! Man redet ja oft über Menschen mit Demenz. Man sollte aber auch mit ihnen reden und sie fragen, was sie sich wünschen oder brauchen. Das ist ebenfalls ein Phänomen, das häufig bei Arztbesuchen zu erleben ist. Der Angehörige sitzt daneben und dann wird mit dem Angehörigen über die betroffene Person geredet. Auch in der Häuslichkeit: Man spricht nicht mehr mit den Betroffenen. Die Dementen sind ja nicht dumm, sie verändern sich nur. Man kann kommunizieren, man muss nur andere Wege gehen.
Wollen Sie mir noch etwas mehr über „Ilses weite Welt“ erzählen? Was sind das für Filme?
Das normale Fernsehprogramm ist gar nicht geeignet für Menschen mit Demenz. Da sind zu schnelle Schnitte und zu viele Inhalte. Das kann eher zu Verwirrung führen oder auch zu Angst und Rückzug. Nachrichten ungefiltert zu zeigen, kann zum Beispiel Kriegserinnerungen wachrufen, aus denen die Betroffenen dann für Stunden nicht mehr herauskommen, weil sie eben Bomben gesehen haben. Und weil ich aus der Filmbranche komme, habe ich mich auf den Weg gemacht und wollte Filme für Omi machen. Omi ist dann gestorben, aber ich wusste: Das ist mein Weg, das ist meine Berufung. Also habe ich mich mit einem Team aus Gerontologen, Musiktherapeuten, Ergotherapeuten, Pflegern und Angehörigen zusammengesetzt und habe diese Filme entwickelt. Die werden jetzt in stationären Einrichtungen eingesetzt, in der Häuslichkeit oder auch in Krankenhäusern. Ja, mein erstes großes Baby und meine Leidenschaft ist „Ilses weite Welt“, allerdings habe ich die Produktion dieser Filme inzwischen lizenziert, sodass ich mich um andere Projekte wie Schulungen, Aufklärung und Veranstaltungen kümmern kann.
Diese Zeit mit Ihrer Oma und Ihrer Mutter, das war ja eine furchtbar schwere Zeit. Gibt es aber trotz aller Trauer auch schöne Momente, die sie positiv in Erinnerung behalten?
Ja, klar! Ich hatte zu meiner Mutter und meiner Großmutter eine unfassbar enge Beziehung. Wir haben unheimlich viel miteinander telefoniert, wir waren so eine Dreier-Einheit. Meine Mutter ist ja zwei Jahre und einen Tag nach meiner Großmutter gestorben und so schmerzhaft das ist, jemanden in den Tod zu begleiten, das hat auch etwas ganz Tiefes und es öffnet neue Türen. Es gibt einem die Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie man dem Leben gegenübertritt. Das hat auch sehr viel mit Dankbarkeit zu tun. Ich habe gelernt, jeden Tag dankbar dafür zu sein, dass ich das mache, was ich mache, und dass ich das hatte, was ich hatte, dass ich diese Liebe meiner Mutter und meiner Großmutter genießen konnte. Die beiden haben mir dadurch ja ein Urvertrauen mitgegeben und das ist nicht selbstverständlich. Ich spüre ihre Liebe jeden Tag. Und ich weiß auch durch diese Erlebnisse, dass das Leben einfach endlich ist. Es kann morgen zu Ende sein, es kann auch heute zu Ende sein. Deshalb sollte man dem Leben nicht hinterherrennen, sondern wirklich in jedem Moment versuchen, da zu sein. Im Jetzt zu leben und zu sehen, dass man im Jetzt glücklich ist und herausfindet, was einem Glück bedeutet. Und jemanden sterben zu sehen, macht natürlich Türen auf im Sinne: Was glaube ich über den Tod? Was spüre ich? Auch das kann sehr bereichernd sein.