Den Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht es nicht gut. Das zeigen zahlreiche Reporte und Studien der DAK-Gesundheit. Gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untersuchen wir regelmäßig, wie die Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist. Diese Reporte und Studien sind die Grundlage, um gezielte Angebote zu entwickeln, die unseren Kindern helfen. Aktuelle Analysen belegen, dass Mädchen und Jungen in der Corona-Pandemie weiter an massiven Gesundheitsfolgen leiden.
Linda-Marlen Leinweber ist Psychologin und Coachin. Im Rahmen der DAK-Initiative niceones macht sie sich auf Instagram stark gegen Stress, Bodyshaming, Onlinesucht und Mobbing. Ihre Stimme hat Gewicht: Rund 55.000 Personen verfolgen ihre Postings allein auf Instagram. Hier bricht sie mit Tabus, spricht Themen, wie psychische Erkrankungen, offen an und ist nah an den Menschen.
Fünf Fragen an Linda-Marlen Leinweber
Frau Leinweber, laut Kinder- und Jugendreport wurden 2021 weniger Mädchen und Jungen aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen behandelt. Gleichzeitig stiegen die Neuerkrankungen bei einzelnen Diagnosen, wie Depressionen und Essstörungen, stark an. Wie passt das zusammen?
In den Versorgungsdaten sehen wir die Spitze des Eisbergs. Wir haben sicherlich eine hohe Dunkelziffer. Gerade während dem ersten und zweiten Lockdown sank die Inanspruchnahme von stationären Aufenthalten und medizinischen Praxen enorm.
Manchmal scheitert es an dem Wissen, wie ich mir als Betroffene oder Betroffener die richtige Hilfe hole, wenn ich psychische Belastungen spüre – Menschen hatten zudem eine erhöhte Krankheitslast in den letzten Jahren. Ganz genau lässt sich nicht sagen, warum die Inanspruchnahme gesunken ist. Was wir definitiv sehen, ist, dass gerade bei jungen Mädchen von 10 bis 14 Jahren Depressionen um 23 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren gestiegen sind. Zwischen 15 und 17 Jahren sind es Angststörungen, die um 24 Prozent gewachsen sind. Essstörungen verzeichnen einen Zuwachs von 54 Prozent.
Bei den Jungen im Alter von 15 und 17 Jahren ist Adipositas mit einem Plus von 15 Prozent ein hervorstechendes Thema. Alarmierende Zahlen, die uns zu denken geben, sollten. Denn der Trend ist weiter steigend.
Wie erleben Sie den Kontakt mit betroffenen Mädchen und Jungen? Was sind häufige Probleme?
Als Creatorin auf Instagram und TikTok erreichen mich täglich Nachrichten von Jungs und Mädels – ich nehme ein starkes Bewusstsein für die eigenen Belastungen wahr. Und mindestens eine genauso große Hilflosigkeit bei dem Gedanken, wie diese Belastungen reduziert werden könnten. Mit den Eltern möchten die meisten aus Scham nicht sprechen oder weil sie merken, dass die Eltern mit eigenen Themen beschäftigt sind. Konflikte zu Hause geben den Kids das Gefühl, dass sie „bloß niemanden nerven sollten“ – gehen die Eltern doch auch so schon auf dem Zahnfleisch. Also ziehen sie sich zurück. Fühlen sich einsam. Verbringen mehr Zeit am Handy, als sie sollten, und bekommen immer mehr Stresssymptome. Die Gedanken rasen, das Grübeln nimmt zu. Gewohnte Stressbewältigungsstrategien wie Bewegung oder Austausch mit Freunden sind oft weggefallen.
Die Folge: Ängste werden wahrscheinlicher. Nicht nur bei Kids, sondern bei jedem. Das erhöhte Cortisol im Blut verändert Gehirnstrukturen so, dass wir immer ängstlicher werden. Gerade soziale Ängste sind in meinen Augen sehr gewachsen. Vielleicht sehen sie auf Social Media zudem vermeintliche „Vorbilder“, die ihren „wohlgeformten“ Körper zur Schau stellen und entwickeln einen Drang auch so auszusehen. Dieser Vergleich, der zur eigenen Abwertung führt, erhöht das Risiko für Essstörungen. Ist neben dem Zuhause auch die Schule ein Ort, an dem sie merken, dass für sie kein Platz ist, weil sie ausgeschlossen und gemobbt werden, nehmen die Selbstzweifel immer weiter zu. Das kann leicht zu einer Negativspirale werden, die in depressiven Episoden endet.
Mich erreichen immer wieder Nachrichten, dass Kinder- und Jugendliche den eigenen Suizid ankündigen oder bei Freunden mitbekommen und nicht wissen, was sie tun sollen. Auch selbstverletzendes Verhalten ist sehr oft Thema. Es ist wirklich erschreckend. Ich habe das Gefühl, die jungen Erwachsenen fühlen sich oft sehr allein gelassen mit ihren Belastungen. Sie fragen nach einer Hand, aber da ist keine.
Jungen und Mädchen leiden unterschiedlich, das zeigen die DAK-Studien. Zum Beispiel nahmen Depressionen, Essstörungen und Angststörungen vor allem bei Teenager-Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren zu. Bei Jungen gingen die Zahlen zurück. Warum ist das so?
Meine Vermutung: Auch im erwachsenen Alter sehen wir, dass Depressionen und Angststörungen bei Frauen deutlich häufiger auftreten als bei Männern. Die erhöhte Wahrnehmung der eigenen Emotionen wird dem zugrunde gelegt. Sicherlich spielt auch die geschlechterspezifische Sozialisierung eine Rolle, warum Mädchen und Frauen ihrer Gefühlswelt mehr Aufmerksamkeit schenken als Männer. Mittlerweile weiß man aber auch, dass sich Depressionen bei Männern oft einfach anders zeigen als bei Frauen. So können der soziale Rückzug und das Weinen typische Merkmale bei einer an Depression erkrankten Frau sein, bei Männern eine erhöhte Aggression. Die Gotland Scale of Male Depression ist ein relativ neues Screening Tool, dass Depressionen bei Männern besser erkennen lassen soll. Sich nur an den Zahlen zu orientieren, ist in meinen Augen zu eindimensional. Auch beim Thema Essstörungen sehe ich einen möglichen gemeinsamen Kern, der sich unterschiedlich auswirkt: Stress und Kontrollverlust könnte das Grundgefühl der Teenies sein. Jungs tendieren in der Folge zu emotionalem Essen als Stressbewältigung, was sich in den gestiegenen Zahlen der Adipositas zeigt. Bewegungsmangel verschlimmert die Situation. Bei Mädchen könnte das restriktive Essverhalten der Magersucht auf den (unbewussten) Wunsch zurückleiten, eine Form der Kontrolle auszuüben. In einer Zeit mit viel Chaos und Orientierungslosigkeit ist das ein häufiges Phänomen. Zudem sollten wir den Einfluss von Schönheitsidealen auf den sozialen Medien bedenken. Die Bildschirmzeit ist in der Corona Zeit extrem angestiegen.
Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind vielleicht psychisch krank ist oder nur aktuell keine Lust auf die Schule hat? Wo sind die Unterschiede?
Wichtig ist, auf Veränderungen zu achten. Sich allein die Kriterienliste von psychischen Erkrankungen anzuschauen, reicht nicht. Denn, wenn das eigene Kind schon immer eher introvertiert war, dann ist das noch kein Warnsignal für eine Depression. Ess-, Schlaf- und Sozialverhalten sind immer wichtige Indikatoren, um zu verstehen, wie es einem Menschen geht. Auch die emotionale Stabilität lohnt sich zu beobachten – wirkt mein Kind reizbarer als sonst? Ist es weinerlicher?
Auch ganz wichtig: Gibt es Dinge, die mein Kind früher geliebt hat und die jetzt nicht mehr gelebt werden? Gibt es einen Wegfall von Interessen oder gar ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten von früher alltäglichen Aufgaben? Am besten ist es natürlich, eine Nähe zum Kind durch regelmäßige Gespräche und bewusste Zeit miteinander zu haben, die es erleichtert, zu verstehen, was wirklich in den Köpfen unserer Kleinen vor sich geht. Ist diese Intimität verloren gegangen, wird es extrem schwer. Denn im abgeschlossenen Zimmer sitzend mit Kopfhörern auf den Ohren, im Online-Game vertieft oder in jeglicher virtuellen Welt lebend, verlieren wir den Zugang zu ihnen. Wir sehen nicht, ob sie weinen, sich selbst verletzen oder den Angst-Gedanken Glauben schenken.
Wo können sich Eltern und ihre Kinder Hilfe holen? Was sind die ersten Schritte?
Für mich ist informieren immer der erste Schritt. Es gibt tolle Informationsseiten, die einfach erklären, was psychische Erkrankungen sind, wie sie sich ausdrücken und wo man sich Hilfe holen kann. Auf der Website der DAK-Gesundheit finden sich hierzu viele Informationen, zum Beispiel unter dak.de/depressionen. Auch der Gang zur Hausärztin oder dem Hausarzt ist eine gute Idee. Mit einer Überweisung und einem Dringlichkeitscode findet sich meist schneller ein Therapieplatz bei dem Kinder- und Jugendtherapeuten. Aber bevor all das beginnt, finde ich es noch wichtiger, dass Eltern sich öffnen und ihr Kind spüren lassen: „Ich verstehe dich. Ich fühle mich auch manchmal so. Das ist völlig ok, dass wir in unserem Leben struggeln. Aber, das muss nicht so bleiben! Ich habe dich lieb und ich helfe dir, dass wir es gemeinsam daraus schaffen.“ Als systemisch arbeitende Psychologin ist es mir wichtig, nicht die Kinder und Jugendlichen als „Problem“ zu sehen, sondern zu verdeutlichen, dass es hier um das System Familie geht, das an seine Grenzen während Corona gekommen ist. Wir müssen uns alle Dynamiken und Wechselwirkungen zwischen den Eltern, zwischen Eltern und Kindern und zwischen möglichen Geschwistern anschauen, wenn wir den Jungs und Mädels wirklich helfen wollen, psychische Belastungen zu reduzieren.
Interview: Stefan Suhr
Fotos: Stefan Klüter
Schlaglichter
Mehr Antidepressiva für Mädchen
Laut Kinder- und Jugendreport stiegen 2021 einzelne Diagnosen wie Depressionen, Essstörungen, Angststörungen und Adipositas im Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten teilweise dramatisch an. Besonders auffällig: Jugendliche Mädchen mit psychischen Erkrankungen wurden verstärkt mit Medikamenten behandelt. Bei Neuerkrankungen stieg die Verordnung von Antidepressiva um 65 Prozent. Die medikamentöse Behandlung von Essstörungen nahm um 75 Prozent zu.
Lebenszufriedenheit hat sich verschlechtert
Die Gesundheit und Lebenszufriedenheit vieler Kinder und Jugendlicher aus sozial schwachen Familien hat sich in der Pandemie besonders stark verschlechtert. Das zeigt der DAK-Präventionsradar. 29 Prozent aller Schulkinder berichten von einem schlechteren Gesundheitszustand. Bei den sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen sind es mit 38 Prozent deutlich mehr.
Mediensucht steigt deutlich an
In der Corona-Pandemie nutzen 4,1 Prozent aller 10- bis 17-Jährigen in Deutschland Computerspiele krankhaft. Hochgerechnet sind das rund 220.000 Mädchen und Jungen – ein Anstieg um 52 Prozent im Vergleich zu 2019. Das ist das Ergebnis der gemeinsamen Mediensucht-Studie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).
So hilft die DAK-Gesundheit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern
Mehr Bewegung, ausgewogene Ernährung, eine Verbesserung der psychischen Gesundheit und geistigen Fitness, ein verantwortungsvoller Umgang mit Suchtmitteln und die Entwicklung einer gesunden Lebenswelt von der Kita bis zur Schule: Das sind die Ziele des Präventionsprogramms fit4future. Seit 2016 konnten mehr als 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche an über 3.100 Einrichtungen von den Inhalten profitieren. Im August 2022 startete die Initiative der DAK-Gesundheit und fit4future foundation mit neuen und optimierten Programminhalten.
Die Initiative niceones macht sich auf Instagram stark gegen Stress, Bodyshaming, Onlinesucht und Mobbing. Mit dabei sind bekannte Influencerinnen und Influencer wie Linda-Marlen Leinweber und Jonas Ems.
Digitale Angebote zur Stärkung der seelischen Gesundheit gibt es mit den kostenlosen Online-Programmen smart4me und Nico. Während smart4me jüngere Teenager anspricht und ihnen eine Anlaufstelle und anonymen Austausch bei Stress und Ängsten anbietet, richtet sich Nico gezielt an 15- bis 20-Jährige und sensibilisiert für Themen wie Mobbing, Bodyshaming und Onlinekonsum.
veo unterstützt Jugendliche ab 12 Jahren, die sich in schwierigen Lebensphasen befinden, individuell durch die Vermittlung und Vernetzung von Therapeuten, Psychiatern, Haus- und Fachärzten. Auch Beratungsstellen, Schulpsychologen, Jugendämter und weitere Hilfsmöglichkeiten werden einbezogen.
Mit Comuterputerhilfe.info steht ein kostenloses Informationsangebot für Jugendliche, Eltern und Angehörige im Schwerpunkt Mediensucht zur Verfügung.
In ausgewählten Bundesländern bietet die DAK-Gesundheit ergänzend zur J1 und J2 das bundesweit erste Mediensuchtscreening für 12- bis 17-jährige DAK-Versicherte an. Es soll frühzeitig eine riskante Nutzung von Computerspielen erkennen.
Mit der Präventionsinitiative „bunt statt blau – Kunst gegen Komasaufen“ sucht die Kasse jährlich die besten Plakatideen von 12- bis 17-Jährigen zum Thema Rauschtrinken. Seit 2010 haben bundesweit rund 122.000 Mädchen und Jungen mitgemacht. Schirmherr ist der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen.
Das Selbsthilfeprogramm just be smokefree motiviert junge Raucherinnen und Raucher, sich mit ihrem Rauchen auseinanderzusetzen. Zudem gibt es konkrete Hilfen zum Rauchstopp.
Nummer gegen Kummer
Darüber reden hilft – bei der "Nummer gegen Kummer" finden Kinder und Jugendliche stets ein offenes Ohr für ihre Fragen, Sorgen und Problemen. Für Eltern gibt es ein eigenes Elterntelefon. Bereits über 4,8 Millionen Ratsuchende haben seit Bestehen der Beratungsangebote davon Gebrauch gemacht. Weitere Infos unter: nummergegenkummer.de