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Familie & Freizeit

Wie geht es eigentlich den Kindern?

In der Pandemie sind Eltern doppelt belastet und gestresst. Aber wie geht es eigentlich den Kindern durch Maskentragen, Abstandhalten und den Wechsel von Präsenzunterricht, Homeschooling und hybrider Lehre? Wir haben drei Experten gefragt und um Tipps gebeten, wie Kinder fröhlich, gesund und ohne Entwicklungsschäden durch den Lockdown kommen.

Prof. Rahel Dreyer
Expertin für die ersten Lebensjahre und Kita-Eingewöhnung

„Die Grundbedürfnisse der Kinder sind nicht erfüllt“

Ich lehre und forsche an der Alice Salomon Hochschule Berlin als Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre. In der berufsintegrierenden Studienform unterrichten wir Studierende, die bereits in der Praxis arbeiten. Auf diese Weise erfahre ich, was gerade in den Einrichtungen passiert und welche Herausforderungen sich zeigen.

Ich denke, die Situation des verschärften Lockdowns ist für Kinder gravierend. Sie erleben eine Beschränkung ihrer sozialen Kontakte und können ihre Erzieherinnen und Erzieher sowie die Freunde aus der Kita für längere Zeit nicht sehen: Der Kontakt mit anderen Kindern gehört jedoch zu ihren kindlichen Grundbedürfnissen. Sie brauchen gemeinsames Spielen, das das Spiel mit Erwachsenen nicht ersetzt. Die Folgen für die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder können wir noch nicht absehen.

Einige Probleme sehen wir Pädagogen aber schon: Bei der Eingewöhnung der Kleinsten unter drei Jahren in die Kita während der Pandemie ist es zum Beispiel kritisch, wenn Erzieherinnen und Eltern Masken tragen müssen. Natürlich ist das aus Infektionsschutzgründen sinnvoll, aber ganz kleine Kinder orientieren sich eben in solch einer Übergangssituation, indem sie die elterliche Mimik ablesen. Sie gucken immer wieder die Mutter an. In ihrem Gesicht versuchen sie zu ergründen, ob alles in Ordnung ist. Man nennt das soziale Rückversicherung. Deswegen sagen wir immer, dass die Eltern im Hintergrund aufmerksam beobachten und beispielsweise nicht Zeitung lesen sollten. Das Aufbauen einer Bindung zu den Erziehern ist mit Masken schwieriger. Die Kinder weinen sehr viel, trennen sich kaum von den Eltern, sind sehr zurückhaltend gegenüber den Pädagogen, halten eine große Distanz zu diesen, lassen wenig körperlichen Kontakt zu, wie mir Erzieher berichtet haben. Wenn sie sich nicht sicher fühlen, können sie nicht „explorieren“, wie wir Pädagogen das nennen, also sich weniger gut auf Neues einlassen.

Wenn sich ein Kind zurückzieht, kann das für die Eltern ein Warnhinweis sein. Dann sollten wir uns Zeit nehmen. Kinder verarbeiten viele Eindrücke, indem sie Erlebtes nachspielen. Da können wir ansetzen, um ihnen jetzt zu helfen: Wir können Kindern ermöglichen, sich zu verkleiden, ihr Zimmer umzugestalten und Fantasiespiele zu spielen. Im Spiel können Kinder nämlich Erlebtes nachspielen und Ängste verarbeiten. Eltern sollten versuchen, sensibel wahrzunehmen, welche Themen ihr Kind gerade umtreibt. Der sozialen Distanz durch Masken und Abstandregeln können wir in der Familie entgegenwirken: Indem wir auf der Couch beispielsweise dicht zusammensitzen, ein Buch vorlesen, ein Spiel auf dem Boden spielen – viel körperliche Nähe pflegen. Bei Fahrten in Bus oder Bahn ist es gut, wenn Eltern viel mit ihrem Kind reden, damit es nicht nur die Augen der Eltern sowie der anderen Passagiere hinter Masken sieht, sondern die vertraute Stimme beruhigend hört.

Auch eine feste Tagesstruktur gibt Kindern jetzt sehr viel Sicherheit. Ein fester Ablauf hilft, dass sie sich orientieren können. Ich hoffe, dass die Fachkräfte in den Kitas während der Lockdownphasen in Kontakt bleiben – zum Beispiel über Briefe, kurze Videos oder Videokonferenzen, damit die Beziehung zu den Kindern nicht abbricht. Wie gut das Kontakthalten klappt, ist in Deutschland meines Erachtens sehr heterogen. Einige Einrichtungen sind bereits sehr innovativ und schicken Anleitungen für kleine Experimente, Spiele oder Hörspiele mit der Stimme der Erzieherin, in anderen Einrichtungen liegt das brach. Der Fachkräftemangel und die mangelhafte digitale Ausstattung zeigen sich in der Pandemie wie unter einem Brennglas und stellen Leitung und Team gerade vor große Herausforderungen. Nach einem längeren Lockdown, so denke ich, müssen viele Kinder vermutlich noch einmal von Neuem in die Kita eingewöhnt werden. Natürlich hängt das auch stark davon ab, wie alt die Kinder sind, wie lange sie bereits die Kita besucht haben und auch wie der Kontakt während des Kitaschließung gehalten wurde.

Wenn wir Eltern mit Kindern über Ängste in der Pandemie reden, ist es wichtig, authentisch zu bleiben. Man sollte ehrlich bleiben und weder verharmlosen noch dramatisieren. Ob die Botschaft stimmig ist, spüren nämlich bereits die ganz Kleinen. Helfen können ein Bilderbuch oder Erklärvideos für Kinder zu Corona. Im Alltag Möglichkeiten zum Austausch zu schaffen ist in der aktuellen Situation noch wichtiger als zuvor.

Sollten sich Eltern gestresst fühlen durch den Lockdown oder eigenes Arbeiten im Homeoffice, so möchte ich ihnen mitgeben, dass Kinder keineswegs Dauerbespaßung brauchen. Ein bis zwei gezielte Aktivitäten genügen: Kinder lernen viel durch Alltagserfahrungen, die ihre Neugier und ihren Wissensdurst anregen – wir können zusammen einen Kuchen backen usw. Wichtig ist auch, dass Eltern sich selbst Freiräume und Verschnaufpausen gönnen und auch einmal allein an die frische Luft gehen. Auf diese Weise lässt sich der Blickwinkel wechseln, und wir können erholen. Das verstehe ich als Selbstfürsorge. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wäre es, dass die Grundbedürfnisse der Kinder schnell wieder erfüllt werden können.

Dr. Jakob Maske
Kinderarzt und Sprecher des Berufsverbandes der Kinderärzte, Berlin

„Viele Kinder sind spielsüchtig und essen ungesund“

Ich bin Kinderarzt in Berlin-Schöneberg und habe meine Praxis in einem sozial gut gemischten Einzugsgebiet. In meiner Praxis sehe ich die Auswirkungen von einem Jahr Corona-Pandemie: Was wir als Praxis-Team als Folgen bemerken, ist sehr komplex und betrifft verschiedene Bereiche. Es gibt medizinische, psychiatrische und pädagogische Auswirkungen.

Im medizinischen Bereich sehen wir eine große Zunahme von Adipositas, also Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Bis zu 30 Kilo haben einige Kinder im Extremfall in unter einem Jahr an Gewicht zugelegt, auch 25 Kilo sind keine Seltenheit. Ein solches Ausmaß haben wir Kinderärzte vorher noch nicht gesehen. Wir bemerken außerdem die Folgen von Bewegungsarmut, die auch auf die Koordinationsfähigkeit wirkt – Kinder können dadurch schlechter klettern oder balancieren. Wir treffen vermehrt auf Kinder, die in der Pandemiezeit spielsüchtig geworden sind und sich vor dem Bildschirm schlecht ernähren. Teilweise sitzen sie mehr als zehn Stunden in ihrem Kinderzimmer vor Bildschirmen verschanzt und spielen Games. Sie haben durch das Spielen oft keinen richtigen Tag-Nacht-Rhythmus mehr. Was ich betonen möchte: Mindestens fünf bis zehn Stunden hängen Kinder mit problematischem Spielverhalten an Spielekonsolen und Geräten. Von eineinhalb Stunden reden wir gar nicht mehr. Bei den Eltern besteht leider oft wenig Interesse, dagegen vorzugehen, weil auf diese Weise eine gewisse Ruhe einkehrt und sie auf die im Homeoffice dringend angewiesen sind, um arbeiten zu können.

Ich rate, einen Tagesablauf mit den Kindern zu schaffen, für Pausen zu sorgen, Sport zu treiben und regelmäßig mit den Kindern raus an die Luft zu gehen. Vielen mangelt es in der Pandemie auch an sozialen Kontakten, worunter sie leiden. Wir treffen auf Kinder und Jugendliche, die zunehmend psychiatrische Erkrankungen wie Angststörungen und depressive Störungen entwickeln. Wir sehen in der Praxis Zwangsstörungen wie beispielsweise Waschzwänge. Das alles hat in der Pandemie zugenommen und wird noch dramatischer, je länger der Lockdown ausgedehnt wird. Oft muss ich das alles erst durch meine Fragen herausfinden. Die Kinder kommen gewöhnlich mit anderen Problemen in die Sprechstunde, und auch die Eltern sprechen diese Themen meist nicht von sich aus an. Wir versuchen, die Eltern zu beraten. Aber wir setzen unseren Rat vielleicht bei zehn Prozent der Beratungen durch. Bei 90 Prozent wissen wir, dass es anschließend so weiterläuft, wie es läuft. Wir versuchen, der Anwalt der Kinder zu sein: Fast alle gucken in der Pandemie nämlich auf ihre jeweiligen Interessen. Die Bedürfnisse der Kinder geraten oftmals aus dem Blick. Auch die Politik nimmt die kindlichen Bedürfnisse zu wenig wahr. Dabei treten schon jetzt die dramatischen Folgen auf – wie eben Adipositas.

Viele Eltern, gar nicht mal nur die, die in ökonomisch schwieriger Situation leben, sind mit der Situation zu Hause überlastet. Viele können die Grundgegebenheiten des Alltags wie Ernährung, Bewegung und Lernen nicht gut strukturieren und für ihren Nachwuchs aufrechterhalten. Ich sehe durch Schulschließungen und Homeschooling auch die Gefahr, dass es zu einem Bildungsmangel in dieser Generation von Kindern und Jugendlichen kommen könnte. Wir fürchten, dass Kinder schlechtere Bildungsabschlüsse machen und häufiger die Schule abbrechen. Da werden jetzt im negativen Sinne die Weichen für viele Kinder gestellt. Das Gros der Kinder hat meines Erachtens große Nachteile durch die Pandemie.

Die soziale Distanz und die Masken fördern natürlich ebenfalls Ängste, und da zeigen sich oftmals die Eltern überfordert, den Kindern diese Ängste zu nehmen. Das Maskentragen führt allerdings meiner Erfahrung nach nicht dazu, dass Kinder keine Mimik wahrnehmen. Es klappt sogar mit mir als Fremdem gut. Wir nehmen es mit Humor, wenn ich die Coronatests anwenden muss. Die Schutzkleidung ist nicht das Problem: Wir sagen in dem Fall: Wir verkleiden uns jetzt mal! Die Bindung zu den Eltern ist in der Regel auch nicht durch Masken gestört. Aber wenn Eltern selbst sehr belastet sind, können sie eben nicht alles umsetzen, was ihren Kindern guttäte. Deswegen sollten wir genauso die Situation der Eltern ernst nehmen, die überlastet sind mit parallelem Homeoffice und Homeschooling. Das sind starke Aufgaben.

Ich würde sagen: Wenn Eltern es hinbekommen, den Kindern eine Struktur zu geben, an der diese sich entlanghangeln können, ist viel getan. Ich rate als Faustregel, für genauso viel Bewegung wie Bildschirmzeit zu sorgen. Auch soziale Kontakte für Kinder sollten Eltern in geringem Umfang und nach den Regeln des Bundeslandes aufrechterhalten. Dann denke ich, können wir mit einfachen Maßnahmen schon eine Menge bewirken. Wer beispielsweise raus an die frische Luft geht, daddelt in der Regel nicht am Bildschirm und tut zugleich etwas gegen Adipositas und drohenden Lagerkoller. Gesunde Ernährung ist natürlich auch wichtig: Abends schafft man es vielleicht, gesund zu kochen – und in der Regel geht man jetzt ja gern einkaufen, um selbst rauszukommen und einen Perspektivwechsel zu erleben.

Was uns Kinderärzten außerdem Sorgen bereitet, ist die Gefahr von häuslicher Gewalt, die sicher zunehmen wird. Wir haben die Befürchtung, dass sie ohne die soziale Kontrolle von Schulen und Kitas steigt. Das muss sich nicht nur als Gewalt gegen Kinder äußern, sondern kann genauso als Gewalt unter Eltern auftreten. Auch das ist eine Kindeswohlgefährdung, und sie muss von uns Kinderärzten jetzt aufmerksam begleitet werden.

Dr. Thorsten Kolling
Experte für Entwicklungspsychologie

„Die Rede von der verlorenen Generation ist übertrieben“

Ich forsche als Entwicklungspsychologe an der Universität Siegen und bin zugleich Vater von drei Kindern. Ich erlebe die Situation also wie alle Eltern und blicke zugleich mit meinem Fachwissen auf die Situation. Über die Belastungen durch die Coronapandemie denke ich: Je älter die Kinder sind, umso weniger problematisch wirken die Einschränkungen wie Maskentragen und Abstandsregeln. Vor allem gilt das, wenn wir den Kindern die unnatürliche Situation gut erklären. Je größer das Verständnis für die epidemiologischen und virologischen Maßnahmen bei ihnen ist und je argumentativer wir mit ihnen sprechen können, umso einfacher. Zugleich sollten wir die Krise für die Kinder nicht kleinreden: Jüngere Kinder verstehen den Sinn der Regeln nur bedingt: Für sie ist es unnatürlich, Abstand zu halten und sie begreifen nicht, warum sie die Großeltern nicht sehen dürfen.

Kinderärzte berichten, dass bei einigen Säuglingen bereits erste Anzeichen von Bindungsbeeinträchtigungen auftreten. Mimik und Gestik sind nämlich zentral, um sichere Bindung zu Bezugspersonen herzustellen und sich emotional auf sie zu beziehen. Ich bin aber auch nicht dafür, zu stark zu katastrophisieren. Dadurch geraten Eltern nur in eine Angsthaltung. Für die Pandemiebewältigung ist es wichtig, was Eltern gegenüber ihren Kindern ausstrahlen. Meines Erachtens sollten wir ehrlich kommunizieren, aber auch signalisieren, dass wir etwas tun können. In der Psychologie sprechen wir von „adaptivem Coping“, das ist eine handlungsorientierte Problemlösung. Im Kern geht es darum, nicht nur auf Negatives zu fokussieren, sondern Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen: Den Kindern können wir erklären: „Wir haben die AHA-Regeln. Wir können Abstand halten, unsere Hände waschen, die App benutzen und uns impfen lassen.“ Diese Haltung zur Pandemie lässt sich mit der Reaktion auf Turbulenzen im Flugzeug vergleichen: Wir können nur den Anweisungen des Piloten folgen. Das Unkontrollierbare dürfen wir ruhig ausblenden, denn wir können das Flugzeug in der Regel nicht selbst fliegen. Genauso ist es jetzt. Ich beobachte, dass das, was wir den Kindern an Problemen andichten, häufig ein Problem der Eltern ist.

Nichtsdestotrotz zeigen Kinder derzeit doch auch teils mehr Aggressivität und Ärger. Warnsignale für Eltern können sein, wenn ein Kind im Verhältnis zu vor Pandemiebeginn sehr viele Ängste entwickelt oder gar nicht mehr rausgehen möchte. In diesem Fall sollten die Eltern sich bemühen, in Kontakt zu kommen. Offenheit hilft und der Versuch, über Ängste zu kommunizieren – ruhig anzusprechen, dass das eine Situation ist, die uns alle herausfordert. Und dann können wir ergänzen: „Wir können aber etwas dagegen unternehmen. Wir haben die Masken und den Impfstoff.“ Zusätzlich können wir kreative Lösungen anbieten: Wir können Sport zu Hause treiben, basteln und am Wochenende sagen: „Wir fahren raus und gehen dahin, wo es ruhig ist.“ Ich empfehle, mit den Einschränkungen so kreativ wie möglich umzugehen.

Doch auch, wenn ich hier kluge Tipps gebe: Mit fällt es mittlerweile selbst schwer: Die Phase des Lockdowns dauert bereits sehr lange. Auch hier können Eltern ehrlich sein. Es ist okay zu sagen: „Wir tun unser Bestes, aber gerade bin ich auch genervt.“ Wenn ich dies betone, geht es mir darum, Druck für Eltern rauszunehmen. Bei Ängsten sollten Sie vor allem an ihren Kindern dranbleiben. Die Pandemie ist zwar ein kritisches Lebensereignis. Aber wenn Kinder stabil genug sind, können wir mit ihnen jetzt auch über Tod und Religion reden. Sind die Kinder jedoch ganz verschreckt, dann würde ich einen anderen Weg wählen. Im Zweifel hilft es, in die Beratung zu gehen. Als kurz- und mittelfristige Folgen der Pandemie könnten nach meiner Einschätzung Leistungsschwächen bei Kindern und Jugendlichen auftreten.

Wenn ein Kind sich aber nicht mehr in die Welt hineintraut, wäre das eine gravierende Folge der Pandemie, denn dann kann es keine kreativen Lösungen entwickeln und sich weiterentwickeln. Die Rede von der verlorenen Generation halte ich trotzdem für überdramatisiert. Wie wir Erwachsene die Krise managen, politisch, sozial und eben mit unseren kreativen Lösungsangeboten, wirkt als Vorbild für Kinder. Erst wenn viele Risikofaktoren zusammenkommen, etwa familiäre Probleme, Armut, Suchtprobleme der Eltern und beengte Wohnverhältnisse, nehmen sie Schaden. Als Rezept würde ich allen Eltern raten, individuell auf ihr Kind und sein Temperament bezogenes Problemlösen, also Coping, zu üben: Gehen Sie auf seine Nöte ein und zeigen Sie Lösungswege auf.

Die Gespräche führte Dr. Stefanie Maeck