Unkonzentriertheit, schlechte Noten, Frust – die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) belastet Betroffene sehr. Zwei Experten verraten im Interview, wie sich die Versorgung verbessern lässt.
Dr. Robert Schlack
Robert Koch-Institut,
Abteilung für Epidemiologie
und Gesundheitsmonitoring,
Berlin
Warum haben Sie die Integrate-ADHD-Studie ins Leben gerufen?
Dr. Robert Schlack: Uns fiel auf, dass die Häufigkeit von ADHS-Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen über die Jahre zunahm, während immer weniger Eltern in Befragungen angaben, dass ihr Kind eine ADHS-Diagnose hat. Diesen Widerspruch wollten wir ergründen. Wir haben dafür unter den DAK-Versicherten die Familien mit Kindern und Jugendlichen mit gesicherter ADHS-Diagnose angeschrieben, davon 5.500 Eltern befragt und die ADHS-Diagnose von 200 Kindern nach Leitlinienstandard klinisch überprüft.
Was haben Sie dabei herausgefunden?
Schlack: Es gab zwei interessante Beobachtungen. Erstens, dass nur rund 70 Prozent der befragten Eltern von Kindern mit diagnostizierter ADHS die Diagnose berichteten, wenn wir sie danach fragten. Zweitens haben wir die ADHS-Diagnose nur in zwei Dritteln der Fälle klinisch bestätigen können.
Warum wissen viele Eltern nichts von der Diagnose ihres Kindes?
Prof. Dr. Marcel Romanos: Es ist unklar, ob Eltern dies wirklich nicht wussten oder nichts sagen wollten, etwa aus Sorge vor Ausgrenzung. Es kann auch sein, dass Eltern in der Kommunikation mit der Ärztin oder dem Arzt nicht alles richtig verstanden hatten, vielleicht aufgrund des Zeitmangels in der ambulanten Versorgung.
Apropos: Rund ein Drittel der Erkrankungen konnte nicht bestätigt werden?
Schlack: Das kann verschiedene Gründe haben. Viele dieser Kinder hatten zwar ADHS-Symptome, allerdings waren diese nicht voll ausgeprägt. Weitere hatten andere psychische Erkrankungen, die ADHS-Symptomen ähneln können.
Romanos: Uns hat beruhigt, dass die Kinder, die behandelt wurden, tatsächlich eine ADHS hatten. Eine Übertherapie ist also nicht das Problem. Im Gegenteil, es gibt eine Unterversorgung. Knapp die Hälfte der Kinder mit bestätigter ADHS wurde gar nicht behandelt, was kritisch ist. Denn viele Erkrankte werden im Verlauf depressiv und im Erwachsenenalter können Probleme folgen, etwa ein hohes Risiko für Verkehrsunfälle sowie ein erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen.
Welche Symptome deuten auf ADHS hin?
Schlack: Meist fällt ADHS in der Schule auf. Betroffene Kinder sind dauernd in Bewegung, unruhig und sehr impulsiv. Durch Konzentrationsstörungen kommt es zu Leistungsproblemen. Typisch sind viele Flüchtigkeitsfehler und eine hohe Ablenkbarkeit. Viele Kinder mit ADHS leiden sehr unter ihren sozialen und Leistungsproblemen.
Was ist die Ursache der Erkrankung?
Romanos: Aus Zwillingsstudien wissen wir, dass die Erbanlagen eine Rolle spielen. Gleichzeitig gibt es Umweltfaktoren, die das Risiko erhöhen. Dazu gehören Rauchen oder Paracetamol-Einnahme während der Schwangerschaft, Schwangerschaftsdiabetes oder Geburtskomplikationen. Kinder kommen also mit ADHS auf die Welt. Faktoren wie die Ernährung, Medienkonsum oder die Erziehung haben hingegen keinen relevanten Einfluss.
Prof. Dr. Marcel Romanos
Universitätsklinikum Würzburg,
Zentrum für Psychische Gesundheit,
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie,
Würzburg
ADHS
Ein häufiges Leiden
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Dr. Robert Schlack und Prof. Dr. Marcel Romanos untersuchten die unterschiedlichen Häufigkeitsangaben, indem sie verschiedene Datenquellen heranzogen. Ihr Fazit: Die Zahlen der Diagnosen bei den Krankenkassen überschätzen die wirkliche Zahl der Kinder mit Diagnose. Zugleich sind viele Kinder unterversorgt. Und: Eine leitliniengerechte Diagnostik durch Fachleute ist essenziell.
Wie wird ADHS therapiert?
Schlack: Zum Beispiel mit Verhaltenstherapie in Form von Elterntrainings. Elterntrainings helfen, die Familien und die psychische Situation des Kindes zu verbessern und zu stabilisieren.
Romanos: Um die Kernsymptome der ADHS zu behandeln, braucht es aber auch Medikamente, die übrigens sehr gut wirken.
Welche Nebenwirkungen treten auf?
Romanos: Die häufigste Nebenwirkung ist Appetitverlust, der bei solchen Kindern ein Problem ist, die von Natur aus eher klein sind. Denn eine verringerte Nährstoffaufnahme kann das Wachstum hemmen. Dieses Risiko lässt sich aber managen, etwa indem die Dosis der Arznei angepasst wird.
Wie lässt sich eine Unterversorgung vermeiden?
Romanos: Am besten vereinbaren Eltern bei Verdacht auf ADHS einen Termin in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis. Dort ist eine leitliniengerechte Diagnostik und Therapieplanung gesichert. Wichtig ist auch die bessere Vernetzung zwischen kinderärztlichen, kinder- und jugendpsychiatrischen sowie psychotherapeutischen Praxen.